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Auszeit
Ich
habe keine Angst
Wie seinen ersten zentriert Laurent Cantet
auch seinen zweiten Langspielfilm im Phänomen der Scham. Und wieder verortet
der 41-jährige Regisseur und Drehbuchautor ihren Ursprung in einer Vater-Sohn-Beziehung.
Mit der Scham, einer ohnmächtigen Arbeiterklasse anzugehören, trieb
er in "Ressources
humaines" das Drama
erst eigentlich an; in seinem jüngsten Film "Auszeit" gesellt
sich der Schmach seiner Hauptfigur, den Job verloren zu haben, eine diffuse
Angst hinzu.
Cantet legt diese Angst sehr präzise
als doppelte frei, die nur ins Dilemma führen kann. Denn die den Plot auf
den ersten Blick beschleunigende Existenzangst des Arbeitslosen führt -
so erfährt man nach und nach - die Angst vor unbefriedigender Tätigkeit
im Gepäck. Und Cantet siedelt auch diesmal seine Tragödie punktgenau
dort an, wo sie sich in der Realität gegenwärtiger Arbeitsverhältnisse
am häufigsten findet: in der Mittelklasse.
Ein freistehendes Einfamilienhaus mit
Garten, eine teilzeitbeschäftigte Frau (Karin Viard), drei Kinder und Eltern,
mit denen er regelmäßig Kontakt hat: Dazu hat es Vincent in seiner
elfjährigen Tätigkeit als Consultant gebracht. Mit dem Namen verband
sein Vater wohl einst Hoffnung in die Zukunft, die eigenen Kinder nennt man
dann Felix oder Alice, als wärs ein Omen.
Doch was wir von Vincent zuerst sehen,
ist der Fond des Wagens, in dem er einen großen Teil seiner Zeit verbringt.
Mit sichtlichem Genuss fährt er Tag für Tag umher, liefert Zügen
Wettrennen, singt wie befreit die Songs im Radio mit. Und alle paar Stunden
telefoniert er mit seiner Frau, das Handy machts möglich.
Wir hören Vincent von Terminen mit
Kunden erzählen, von Stress und Verspätung zum Abendessen. Alles,
was er sagt: ein Versprechen. Die Worte sind gefärbt von zahlreichen Filmen,
die um Ehebruch kreisen. Nur dass sie diesmal allein der perfekten Inszenierung
eines ganz normalen Angestelltenlebens dienen. Denn den aufreibenden Job, von
dessen Alltag er seiner Frau erzählt, hat Vincent schon vor Monaten verloren.
Und der Schauspieler Aurélien Recoing
schafft das Unmögliche: diese Darstellung des eigenen Lebens Szene für
Szene anstrengender aussehen zu lassen, als es der Job, von dem die Rede ist,
je sein könnte. Bald ersinnt sich Vincent eine neue Anstellung. In der
Schweiz, so lässt er die stolze Familie wissen, arbeite er jetzt bei der
UN in einer Abteilung, die für die Entwicklung Afrikas private Investoren
mit NGOs in Kontakt bringe. Seinem Vater soll das gefallen. Doch der möchte
lieber diskutieren, ob man denn damit wirklich die Welt verändern kann.In
wenigen Sätzen lässt Cantet hier das ganze Drama eines Kampfs um Anerkennung
anklingen.
Vincents Flucht in die Schweiz, die Cantet
mit märchenhaften Schneelandschaften zu untermalen weiß, gerät
dadurch jedoch nur immer tiefer in die Sackgasse. Den Vater hat er schon um
200.000 Francs angepumpt, angeblich um sich ein Appartment kaufen zu können,
und zahlreiche Freunde hat er mit der Lüge eines zwar illegalen, dafür
aber umso gewinnbringenderen Investmentgeschäfts in Osteuropa um Unsummen
betrogen.Doch was das Schlimmste ist: Auch seine Frau wird zunehmend misstrauisch.
Immer tiefer schliddert Vincent in die
Katastrophe. "Auszeit" verrät dem Publikum nicht nur, was dieser
weiß, sondern auch, was nach und nach andere
über ihn erfahren, und so gerät das Familientragödie mehr undmehr
zum Thriller. "Ressources humaines" wirkte oft hölzern, wenn
es um die Erdung des Dramas in ambivalenten Gefühlen ging. Doch diesmal
orchestriert Cantet die Konflikte geradezu, macht die vielen Stimmen hörbar,
die Vincent antreiben: die ökonomischen Notwendigkeiten, die familiären
Anforderungen, die sozialen Anordnungen, den Anspruch auf nicht entfremdete
Arbeit, den Wunsch, frei zu sein, vor allem aber die Widersprüche, die
all das zwangsläufig hervorbringt.
So etwas konnte Ken Loach in seinen besten
Filmen - und mit ihm nur wenige. Inzwischen findet es sich auch bei jüngeren
Filmemachern, vor allem im französischsprachigen Kino, etwa bei Luc und
Jean-Pierre Dardenne ("Rosetta"), Mehdi Charef ("Marie-Line")
oder Bruno Dumont ("L'humanité"). "Ich habe keine Angst",
wird Vincents letzter Satz in "Auszeit" sein. Doch aus Recoings flatternden Blicken spricht abermals die Lüge.
Christiane Müller-Lobeck
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.filmtext.com
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Auszeit
(L’Emploi du temps)
Frankreich 2001, 132 Minuten
Regie: Laurent Cantet
Drehbuch: Laurent Cantet, Robin Campillo
Musik: Jocelyn Pook
Kamera: Pierre Milon
Schnitt: Robin Campillo
Produktionsdesign: Romain Denis
Darsteller: Aurélien Recoing (Vincent), Karin Viard (Muriel),
Serge Livrozet (Jean-Michel), Jean-Pierre Mangeot (Vater), Monique Mangeot (Mutter),
Nicolas Kalsch (Julien), Marie Cantet (Alice), Félix Cantet (Félix),
Olivier Lejoubioux (Stan), Maxime Sassier (Nono), Elisabeth Joinet (Jeanne),
Nigel Palmer (Jaffrey), Christophe Charles (Fred), Didier Perez (Philippe)
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