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Bedways
Fleisch
ist sein Gemüse
So
sieht das also aus, wenn man in Deutschland versucht, filmische Grenzen zu verschieben.
RP Kahls mit 76 Minuten recht bündig geratener Independent-(oder doch Experimental-?)Film
Bedways, gedreht
in blitzsauberer digitaler Optik und kompromisslosem 4:3, beginnt gleich mit
einem Höhepunkt. Und der ist gottseidank nicht dramaturgischer, sondern
sexueller Natur.
Nach
der Welle der europäischen Arthouse-Pornos, nach Intimacy und
9
Songs
war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich auch mal ein deutscher Filmemacher
an die zahlreichen Thematiken heranwagt, die die fleischliche Liebe auf Zelluloid
ja zweifelsohne zu bieten hat. Man dachte eigentlich an einen wagemutigen Filmstudenten,
aber man hätte es besser wissen müssen: Mehrere Jahre hat Kahl das
Genre des Erotikfilms in photographischen und filmischen Vorarbeiten eingekreist,
bevor er sich nun ans Eingemachte wagt. Wie den meisten Pionieren des Leinwandsex’,
die immerhin auf wackligem und unbekanntem Boden balancieren, gerät auch
ihm dabei einiges etwas zu krude oder zu gefällig – aber es ist bemerkenswert,
wie stimmig, wie ästhetisch und, ja, wie erotisch sein kleiner Low-Budget-Film
letztlich geworden ist. Kahl hat viel gewagt und viel gewonnen.
Das
liegt, neben dem sensationell mitreißenden Soundtrack, vor allem an einem
auf den ersten Blick simplen, bei näherer Betrachtung raffiniert komplexen
Drehbuch: Die junge Regisseurin Nina will mit den Schauspielern Hans und Marie
Improvisationen und kreative Proben für ein erotisches Filmprojekt machen.
Da sie selbst noch nicht genau weiß, worauf es hinauslaufen soll, liegt
der Gedanke nahe, dass sie auf diese Weise ihre Vergangenheit mit Hans aufarbeiten
möchte. Das führt zu einigem (auch medialen) Durcheinander, bis es
in einer bemerkenswerten Abschlussszene in einem Erotikclub endlich einen Durchbruch
gibt, über den noch zu reden sein wird.
Die
Schauspieler steigern sich von anfänglich unsicherer Hölzernheit zu
abschließender völliger Hingabe, vor allem die erstaunliche Miriam
Mayet überzeugt dabei restlos. »Du hast so ein abweisendes Lächeln«,
bekommt sie im Film gesagt, und ihr kühles und trotzdem sinnliches Spiel,
das erst in der klimaktischen Schlussszene vollends auftaut, ist damit ausgezeichnet
beschrieben. Auch Lana Cooper und Matthias Faust bestechen durch ihre Furchtlosigkeit
und ihre Wärme in einem Filmprojekt, das sicherlich keine leichte Angelegenheit
war.
Von
der letzten Sequenz aber, einer fünfminütigen, ungeschnittenen, digital
verzerrten Masturbationsszene, muss ausführlicher gesprochen werden. Es
ist das erste Mal, dass die Figuren den bis dahin einzigen Schauplatz, ein kahles,
heruntergekommenes Berliner Loft, verlassen, und die anschließende Vereinigung
nach langem Warten wirkt wie eine doppelte Befreiung. Zum Einen für die
Figuren, die ihre Leidenschaften endlich aus dem fiktiven Filmprojekt in die
Realität holen können – paradoxerweise mittels eines Videoschirms.
Zum Anderen für die Zuschauer, die endlich im deutschen Kino erleben dürfen,
wie erotisch echte Intimität und echte Leidenschaft in einer Sexszene sein
können. In einer ironischen Spiegelung der Klimax von Paris,
Texas
findet sich der Zuschauer mit dem Blick auf einen Einwegmonitor wieder, hinter
dem wir Nina sitzen sehen, die uns nicht sieht – und uns doch direkt in die
Augen schaut. Sie hat die Kontrolle über diesen Augenblick, sie konfrontiert
den Zuschauer mit dessen eigener Schaulust und lädt ihn gleichzeitig ein.
Es ist ein magischer Moment von Rückkopplung der Zuschauer-Energie, und
mit Leichtigkeit die interessanteste Sexszene im deutschen Kinofilm der letzten
Jahre.
Und
was bleibt nun für die deutschen Filmemacher als Lehre dieses bemerkenswerten
Vorstoßes? »Flesh is the new law« vielleicht, wie die französische
Band Mypark auf dem Soundtrack verkündet? Oder doch eher »Ich will
soviel. I’m so unreal«, wie Anne, die Sängerin von Sissimetall, über
die schweißtreibende E-Gitarrenwand ihrer Band bei einem Liveauftritt
vor den Figuren stöhnt? Auf
jeden Fall dies: Long Live the New Flesh.
Daniel
Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Bedways
D
2010. R,B: RP Kahl. K: Fabian Knecht. S: Stephanie Kloss. M: Sissimetall. P:
Independent Partners, Mogador Film, Group.ie, Erdbeermund Filmproduktion. D:
Miriam Mayet, Matthias Faust, Lana Cooper, Laura Tonke, Arno Frisch, Moritz
Ross.
76
Min. Reverse Angle ab 3.6.10