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Die
Besucherin
Unter den Depressiven sind die Neurowissenschaftler
die bemitleidenswerteste Spezies: Sie können jede Phase ihrer Erkrankung
bis ins kleinste biochemische Detail erklären und können doch nicht
aus ihrer Haut. In dem erstaunlich reifen Debüt der 1980 geborenen KHM-Absolventin
Lola Randl stolpert eine auf Leistung und Kontrolle bedachte Hirnforscherin
in eine Krise, als ihr auf der täglichen Rückfahrt vom Institut ein
Selbstmörder vor die Räder springt. Auf den ersten Blick nimmt sie
den Zwischenfall gewohnt souverän hin, erwähnt ihn nicht einmal, als
sich zu Hause Mann, Tochter und der zu ihrem Geburtstag versammelte Freundeskreis
über einen Nachbar unterhalten, der kurz zuvor aus dem Fenster gesprungen
ist.
Die Theaterschauspielerin Sylvana Krappatsch,
die man auf der Leinwand öfter sehen möchte, spielt diese allen Anforderungen
gewachsene Familienernährerin über 40 als eine Egozentrikerin, die
alles und nichts umwerfen kann. In der Radikalität, mit der sie ihre eigene
seelische Hygiene auch auf Kosten ihrer Nächsten betreibt, erinnert Agnes
an die ähnlich angelegte Figur der Miriam, die Martina Gedeck in Stefan
Krohmers Familiendrama „Sommer
04“ (fd 37 835) mit bravouröser
Ambivalenz zu verkörpern wusste. Dass ihr Gatte, Hausmann und erziehender
Vater, unter ihrem Desinteresse für seine Arbeit als Krimiautor leidet,
nimmt sie ebenso emotionslos hin wie den Umstand, dass ihr ihre Tochter aus
dem Weg geht. Sie gibt vor, an der Familienchemie zu arbeiten, verliert sich
dabei aber nur in nüchterner Analyse und einer Toleranz, die erschauern
lässt. Wenn sie in der Nacht schlaflos mit ihren kalt glitzernden Augen
dem schwarzen Loch in ihrem Innern entgegenblickt, wähnt man sie gefährdet
– dabei ist sie nur unterfordert.
Es bedarf nur eines unbedeutenden Zufalls,
um den allzu ruhigen Fluss ihrer saturierten, bildungsbürgerlich aufgeklärten
Existenz aufzubrechen. Ihre nicht weniger selbstbezogene Schwester in Gestalt
der wunderbar überdreht spielenden Jule Böwe hinterlässt ihr
einen Schlüssel zu einer fremden Wohnung. Die Blumen müssen gegossen,
der Papagei gefüttert werden. Es ist buchstäblich der Schlüssel
in ein Parallelleben, denn dort lässt sich Agnes auf einen Mann ein, ohne
zu fragen, wer er ist, oder ihm ihre eigene Identität zu verraten. Er ist
viel älter und lebensmüde, übernimmt aber die Initiative und
stellt keine Bedingungen. Dennoch ist „Die Besucherin“ kein „Intimacy 2“. Der Sex ist ein kurzes Ventil, das
zwar Nähe herstellt, aber nicht davon abhält, sich zu siezen. Jeder
benutzt jeden. Der Mann, um über den Tod der Geliebten hinwegzukommen,
die Besucherin, um sich selbst für kurze Zeit zu vergessen. Denn der Wille
zum Loslassen will sich bei ihr partout nicht einstellen, schließlich
war das Leben vorher nicht wirklich falsch, höchstens in seiner Perfektion
erdrückend abgeschlossen. In der letzten Sequenz, als Ehemann und Liebhaber
einen Schlussstrich ziehen, sitzt sie wieder allein am Steuer. Die Tränen
kullern noch, doch die alte funktionstüchtige Körperhaltung ist bereits
wieder erkennbar. Auch der an intensiven, beobachtenden Kinobildern reiche,
mit französischem Flair inszenierte Film verbietet sich eine Eruption.
Er bleibt seiner Figur nah, in all ihrer Unnahbarkeit. Es ist unbequem, das
zu beobachten, aber das Unbehagen verbindet sich mit dem Eindruck der Dringlichkeit,
mit dem unerschrockenen Blick auf eine von lauter unglücklichen Zeitgenossen
bevölkerte Krisenrepublik, die lieber den Stillstand pflegt, als inne zu
halten, das Steuer loszulassen und vielleicht die Spur zu wechseln.
Alexandra Wach
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Die
Besucherin
Deutschland
2008 - Regie: Lola Randl - Darsteller: Sylvana Krappatsch, André Jung,
Samuel Finzi, Jule Böwe, Isabel Metz, Stephan Ullrich, Melanie Spielmann,
Maria Faust, Konrad Domann, Lina Beckmann, Felix Bröckling - FSK: ab 12
- Länge: 104 min. - Start: 14.5.2009
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