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Bleeder
Detonation
im Labyrinth der Gewalt
Die
Bilder des chinesischen Staatsfernsehens gingen um die Welt: Kleine Kinder,
junge Frauen waren in Großaufnahme zu sehen, wie sie sich auf dem Platz
des Himmlischen Friedens selbst verbrannten. Aus entstellten, angekohlten Leibern
in Gebetsstellung kamen zaghafte Hilferufe, unterlegt mit einem Kommentar, der
die Gemeingefährlichkeit der Falun-Gong-Sekte unterstrich. Man sah fürchterliche
Bilder einer authentischen Gewalt, die eingesetzt wurden, um das gewaltsame
Eingreifen der Staatsmacht gegenüber einer Religionsgemeinschaft zu legitimieren
und Empörung über gesetzliche Übergriffe einzudämmen. Die
vielen stummen, schweigenden Gesichter inmitten der gespenstischen Vorfälle
auf dem Pekinger Platz zeigen: Die Bevölkerung ist lethargisch genug, um
sich von einzelnen Protestlern nicht aus ihrem Trott bringen zu lassen.
Die
Fernsehbilder unterstreichen die erfolgreiche Werbebotschaft der Partei: Sie
verkaufen Bilder der Gewalt als Opium fürs Volk, für eine Bevölkerung,
der jeder Widerstand gegen die Staatsgewalt zwecklos erscheint. Gewaltbilder
solcher Machart und in solchem Kontext sollen Gewaltausbrüche verhindern,
sie versetzen das Potenzial des Einzelnen umso stärker in den Zustand der
institutionalisierten Latenz, je brutaler und eindimensionaler sie daherkommen.
Ein
junger dänischer Filmemacher, Nicolas Winding Refn, hat in seinem zweiten
Spielfilm "Bleeder", der 2000 bei den Filmfestspielen von Sarajewo
den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik gewann, so etwas wie ein modernes
gewalt-religiöses Drama geschaffen. Angesiedelt unter jungen Vorstadt-Kopenhagenern
spielt die eigentliche Hauptrolle die latente Gewalt, die Erlösung verspricht,
ihre eigene Ikonographie hervorbringt, eine Gewalt, die Blut und eindeutige
Lösungen einfordert. Wer sich ihr nicht unterwirft, so legt es der Film
nahe, bleibt in sich verloren und versinkt in der Nichtigkeit der eigenen Passivität.
Wenn der Regisseur eine moralische Absicht vertreten würde, wäre es
eine klare Absage an jede Form einer Kodifizierung von Filmgewalt. Jedoch macht
es der Film dem Zuschauer nicht so einfach: stringent erzählt er in kurzen
Episoden eine Geschichte von fünf jungen Leuten, beschreibt genau, ohne
zu erklären und ohne zu werten. Zugleich mischt er sich auf seine eigene
Weise in die Diskussion um Mediengewalt ein, indem er die unmittelbaren Wirkungen
von filmischer Gewalt auf den Alltag junger Menschen beschreibt.
Trotz
der realistischen Filmsprache, die in ihrer Stringenz die Welle der Dogma-Filme
bereits abgelöst zu haben scheint, nimmt "Bleeder" Anteil an
einem Diskurs über Gewalt, ihre Bilder und ihre Realität, der verstörend
ist wie kaum in einem anderen zeitgenössischen Film, mit Ausnahme vielleicht
von Thomas Vinterbergs "Festen".
"Bleeder" spielt zwar im freien Westen, wo Meinungsfreiheit, offener
Diskurs und Demokratie herrschen. Dennoch wird an diesem Film die opiatische
Wirkung kodifizierter Gewaltbilder auf eine stumpfe, trostlose Gegenwart deutlich
und mit der abstoßenden, befremdenden und beängstigenden Wirkung
isolierter Gewaltbilder kontrastiert.
Zum
Inhalt: Leo, Lenny, Louis und Kitjo sind Film-Junkies. Sie treffen sich beinahe
täglich im Keller von Kitjo, dem Besitzer einer gut sortierten Videothek,
und sehen sich Splatterfilme an. Leo lebt mit Louis’ Schwester Louise in einer
heruntergekommenen Altbauwohnung. Lenny, der in der Videothek jobbt, kennt nur
eines: Filme. Er ist ein schmächtiger, schüchterner Eigenbrötler,
der sich in Lea verliebt hat, die in einer Imbissbude arbeitet. Jeden Abend
steht er vor dem Schaufenster und beobachtet sie, bis wieder einmal die Sicherung
durchknallt und alles stockdunkel wird.
Leo
hat gerade erfahren, dass seine Freundin schwanger ist. Er lässt sich nicht
anmerken, was in ihm vorgeht. Als Louis die beiden besucht und seiner Schwester
gratuliert, nimmt ihn Leo beiseite und fragt seinen Kumpel, ob er selbst schon
Vater sei.
Louise
hat in einem Waschsalon eine junge Mutter mit zwei Kindern kennengelernt und
sie spontan zu sich nach Hause eingeladen. Leo taucht auf und als er sieht,
wie eines der fremden Kinder mit seinen Sachen spielt, lässt er sich nichts
anmerken. Als der Besuch verschwunden ist und Louise sich ihm unbefangen nähert,
versetzt Leo ihr mit der Handkante einen äußerst heftigen Schlag
ins Gesicht.
Louis
besucht seine Schwester. Als er von Leos Wutausbruch erfährt, warnt er
ihn eindringlich davor, seiner Schwester auch nur noch ein Haar zu krümmen,
sonst würde er über die Klinge springen.
Während
einer Filmsession im Keller der Videothek zückt Leo plötzlich eine
Waffe und richtet sie auf Louis. Er droht, ihn zu erschießen, genießt
die kurzen Momente wirklicher Macht über seinen aggressiven Kumpel. Anschließend
beim Bier in einer Snackbar versöhnen sich Leo und Louis mittels einer
brüderlichen Umarmung. Die Sache mit der Waffe sei nur ein Scherz gewesen,
meint Leo.
Zuhause
muss Leo feststellen, dass Louise seine Sachen von einem Regal heruntergenommen
hat, um das gemeinsame Schlafzimmer umzuräumen. Was zunächst wie eine
lauernde Verstimmung wirkt, schlägt schnell um in blinden Hass: Sie habe
nichts an seinem Eigentum verloren und ihn außerdem an ihren Bruder verraten.
Auf einmal schlägt er hart auf seine schwangere Freundin ein, trampelt
mit festen Tritten mehrmals auf den Bauch der am Boden Liegenden ein und verlässt
wortlos die Wohnung.
Der
schwer verletzten Louise gelingt es mit letzter Kraft, ihre Mutter anzurufen.
Schließlich erfährt auch Louis von dem Vorfall. Er nimmt sich ein
paar kräftige Kerle und lauert Leo auf, um sein Todesurteil an ihm zu vollstrecken.
Ein aidskranker Junkie verkauft Louis eine Spritze, die mit seinem HIV-verseuchtem
Blut gefüllt ist. Dann „exekutiert” er den schreienden Leo, indem er ihm
die Spritze in einen Oberschenkel jagt.
Irgendwie
schafft es Leo nach Hause, als Louise anruft. Durch seine Tritte habe sie einen
Abort gehabt. Leo macht sich mit seiner Waffe auf die Suche nach Louis. Auf
offener Straße schießt er ihn an, zerschießt sich dann seine
linke Hand und wringt sie über Louis’ offener Bauchwunde aus: das infizierte
Blut tropft in den Körper des Sterbenden. Anschließend tötet
er sich mit einem Kopfschuss.
Die
einzelnen Episoden des Films, die aus einer monochrom roten Fläche auftauchen
und in sie wieder hinein verschwinden, zeigen in parabelhaftem, prägnanten
Stil die amorphe Gestalt der Gewalt, sie führen in ihr Labyrinth wie in
die Gänge eines kinematographischen U-Bootes, das kurz vor einer vernichtenden
Detonation steht. Jeder der Beteiligten hat ein charakteristisches Verhältnis
zur Gewalt, sei es Lea, die zwar keine Gewaltfilme ansieht, aber Bücher
wie Last Exit Brooklyn liest, sei es Lenny, der in der Realität ein scheuer,
alles andere als gewaltbereiter Zeitgenosse ist, mit einem Gewissen ausgestattet
und hochempfindlich gegen jede Form gewaltgeprägter Auseinandersetzung,
sei es Louise, die scheinbar friedlich vor sich hin lebt, aber von einem offensichtlich
hochaggressiven, rassistischen Bruder gehegt und unbefragt beschützt wird.
Das Interessante an "Bleeder" ist, dass er keine der vorgestellten
Perspektiven als wahr oder angemessen bevorzugt. Vielmehr stellt er die unterschiedlichen
Perspektiven im Umgang mit einer scheinbar allgegenwärtigen, doch nur selten
thematisierten sozialen Gewalt nebeneinander, versagt sich eindimensionale Wertungen.
Seine Stellungnahme besteht im unbestechlichen, ungeschönten, aber auch
von Negativklischees befreiten Blick auf seine Protagonisten, auf unscheinbare
Regungen, die herkömmlicherweise in den offiziell geführten Diskursen
um Rache, Familie, Filmgewalt usw. unterzugehen drohen, im Filmganzen jedoch
ein Störelement bilden, das eine eindeutige wertende Bilanzierung unmöglich
machen. Gerade darin liegt die besondere Qualität dieses Filmes, dass er
statt abstrakter Grundlegungen zu einer sozialpsychologischen Theorie der Gewalt
eine weder prätentiöse noch teilnahmslose Beschreibung des gegenwärtigen
Gewaltphänomens bietet. Die einerseits perspektivistische, andererseits
phänomenologische Ausrichtung von "Bleeder" verbietet daher eine
Analyse vermeintlich schlüssiger Argumentationsketten, die dieser Film
nicht aufweist. Statt dessen soll am Beispiel Leos der oben angerissene Handlungsablauf
anhand signifikanter Episoden und Szenen beleuchtet werden.
Louises
Freund ist das ideale Täteropfer: Scheinbar lieb und artig, zeigt Leo eine
anscheinend früh antrainierte Fügsamkeit in einer aggressiven und
destruktiven Umgebung. Leo wirkt zerrissen zwischen der passiven Fasziniertheit
männlichem Behauptungsgehabe gegenüber und einer hochsensiblen aber
ausdrucklosen Seite. Leos Gewaltausübung ist daher besonders absurd und
hart: Sie richtet sich gegen Wehrlose, die ihm besonders am Herzen liegen: Er
misshandelt seine Freundin schwer und trampelt den Fötus in ihrem Unterleib
zu Tode.
Weich
und aggressiv gehemmt, weicht Leo einer Auseinandersetzung um die Schwangerschaft
seiner Freundin aus. Bei dem einzigen kurzen Gespräch zwischen den beiden
wird klar, dass Louise schon mehrere Abtreibungen hinter sich hat und jetzt
endlich ein Kind bekommen möchte.
Als
Louis zu Besuch kommt, verkrümelt sich Leo in einen anderen Raum, wo er
schweigend an eine Wand gelehnt verharrt. Beim anschließenden Geplauder
mit Louises Bruder wird schnell deutlich, dass Louis den Überblick hat:
Er weiß, dass wir Menschen auf der Welt sind, um Kinder zu zeugen; wenn
irgendwann alles gesagt und getan ist, will auch er Kinder haben. Schon seine
offensive Gangart macht klar, wer hier der Macher ist und wer der ewige Schweiger.
Leo ist der unsichere Junge, der seine Gefühle hinter albernen Fragen von
Mann zu Mann vertuscht.
In
der Diskothek will Leo nur weg von der Gewalt, die sich vor seinen Augen abspielt.
Zaghaft bittet er hinaus zu dürfen; was natürlich niemand hört,
denn alle anderen sind gerade mit Leibeskräften dabei, den ausländischen
Schützen tot zu prügeln. Leo steht hilflos, ohnmächtig da, mit
schmerzverzerrtem Gesicht. Vor ihm spielt sich in der Realität ab, was
er zur Genüge kennt und dem er scheinbar niemals entfliehen kann: eine
Gewalt, die er Tag für Tag als Filmware konsumiert. Gezeigt wird das verzweifelte
Schreien des Opfers, die dumpfen Schläge mit Metallstangen auf Nieren und
Schädel des wehrlosen Mannes. Ihre Inszenierung steht in ihrer lakonischen
Strenge in eklatantem Gegensatz zu den überbordenden Gewaltopern in den
Splatterfilmen, die sich die Freunde regelmäßig reinziehen.
Einen
Kick an Überlegenheit kann sich Leo verschaffen, als er Lenny bloßstellt:
der hat es nicht geschafft, mit Lea vernünftig, also nicht nur über
Filme zu reden, er hat weder Anstalten gemacht, sie zu küssen noch sie
anzufassen. So etwas ist für Leo schlicht unnormal. Leo ist allemal was
Besseres als der gestörte Filmfreak und Autist Lenny, dessen Lieblingsfilm
"The
Texas Chainsaw Massacre"
ist und der nicht einmal eine Frau rumkriegt.
Beim
eskalierenden Streit mit den andersfarbigen Kioskbesitzern spürt Leo schnell,
was es heißt, ganz normal und männlich zu sein: Louis lässt
seinem aggressiven, sexistischen Rassismus freien Lauf, bezeichnet die Ladenbesitzer
als „schwarze Fotzen“, ist kurz davor, alles kurz und klein zu schlagen. Leo
schweigt betreten, voll unterdrückter, aber ungerichteter Aggression. Nur
Lenny entschuldigt sich.
Beim
abendlichen Splatterfilm bringt Leo die Rede auf den Schusswechsel vor der Diskothek.
Louis will nichts davon hören, verleugnet alles. Ein vorsichtiges Aufmucken
Leos gegen den dominanten Freund kommt auf: Er will sich nicht mehr andauernd
diese unwirklichen Filme ansehen. Gleichzeitig verdichtet sich sein Wunsch,
selbst in den Besitz einer Waffe als eines scheinbar notwendigen Machtinstrumentes
zu kommen. Er fragt Louis aus, ob er jemals Lebewesen erschossen habe, Menschen
oder wenigstens Tiere, Kaninchen oder so. Louis verneint. Dann unverblümt
die Frage, ob er ihm einen Revolver besorgen kann – just
for fun.
Während auf der Leinwand munter und opulent geschlachtet wird, konkretisieren
sich Leos Vorstellungen von einer handfesten Waffe. Diese Filme seien unlogisch,
wie schnell die immer an so viele Knarren kämen, meckert er wie ein motziges
Kind. Sein Gesichtsausdruck ist dabei übersättigt von Gewalt.
Leo
scheint so besoffen vom untätigen Anschauenmüssen von Brutalitäten,
von seiner zugleich rauschhaften und lähmenden Wirkung, dass er die Annäherungsversuche
Louises nicht mehr ertragen kann.
Mittlerweile
hat sich Leo eine Waffe besorgt und zeigt sie stolz Lenny. Mitten in den unzähligen
Videokassetten wirken beide so fremd und unangebracht wie Lea, die filmfremde
Leserin. Sie sucht auf ihre Weise nach Stoffen der Entgrenzung: in einem Antiquariat
fragt sie nach Hubert Selbys Last Exit Brooklyn. Der Antiquariats-Keller, in
den sie geschickt wird, mit seinen meterhohen Regalen und seinen zehntausenden
von Büchern erinnert zugleich an die Kamerafahrt zu Beginn des Filmes,
die die unzähligen Videokassetten in Kitjos Laden zeigt: auch hier eine
verstellte Welt voller Abbildungen von Leben, selbst aber völlig lebensfremd.
Räume, in denen ein einzelner Mensch sich unweigerlich fremd und klein
fühlen muss wie in einer Kathedrale.
Als
Louis Leo auflauert, um ihn wegen der Schläge gegen Louise zur Rede zu
stellen, hält dieser die ganze Zeit die Finger an seinem Revolver. Er lässt
sich von Louis demütigen, als fettes Schwein beschimpfen.
Doch
erst am Abend zückt er die Waffe, nachdem ihn der äußerst aggressiv
gestimmte Louis konsequent provoziert hat. Leo verharmlost seinen Ausbruchsversuch
aus seiner Hilflosigkeit, indem der den Auftritt mit dem Revolver als Joke deklariert.
Leo
ist gefangen in einer Welt, die Stumpfsinn, hierarchisches Verhalten, Gehorsam,
Gewalt und Gleichgültigkeit kennt und vor allem: Scheu vor jeder emotionalen
Offenheit. Das Zücken seiner Waffe während eines Splatterfilmes kann
nichts anderes als einen Witz darstellen, für die anderen makaber und unverständlich,
für ihn selbst zwecklos, da immanent im Kosmos der Gewalt verstrickt. Sein
Versuch, Louis aus seinem Leben zu verbannen, und das mittels einer Waffe, ist
so absurd wie gefährlich. Einerseits ist Louis ein durch und durch gewaltgeprägter
Mensch, der sich von solchen massiven Drohungen nur angestachelt fühlen
muss; andererseits will Leo nicht mehr behelligt werden, wenn er seiner Freundin
heftige körperliche Gewalt antut. Als er Louise zum ersten Mal schlägt,
wirkt es wie der verzweifelte Versuch, für einen kurzen Moment die eindeutige
Sprache der Filme in die Wirklichkeit seiner Beziehung und der damit verbundenen
Probleme zu übertragen. Die Momente, die Louis erstarrt vor Angst in seinem
schmuddeligen Sofa sitzt, bis Leo abdrückt und alle zusammenzucken, als
man nur das Klicken des Abschusshahns hört – der Revolver ist nicht geladen
– scheinen für einen Moment die Minderwertigkeit, Schwäche, Ohnmacht,
das dauernde Gedemütigtsein Leos aufzuwiegen. In Wirklichkeit setzen sie
eine Gewalteskalation zwischen den beiden in Gang, die trotz der verlogenen
männerbündischen Versöhnungsgeste in der Snackbar von jetzt an
eine kaum mehr zu steuernde Eigendynamik entwickelt. Der Streit mit Louise,
die einlenken will, als Leo sich wütend zeigt wegen der Unordnung an seinen
Sachen, bricht vollends aus, als er ihr Verrat vorwirft, sie beschuldigt, ihrem
Bruder von den Schlägen erzählt zu haben.
Die
letzten Sequenzen zeigen Leo und Louis nur noch als stumme Darsteller eines
unerbittlichen, emotionslosen und zwanghaften Gewaltrituals, das in der hohlen
Geste der blutenden Faust Leos und seinem Schuss in den Mund gipfelt. Gezeigt
wird der Versuch, die Rivalität, Angst und Hass in die Form filmisch vermittelter
Gewalt zu kleiden. Winding Refn gelingt es hierbei souverän, ihr klägliches
Scheitern zu verdeutlichen. Das scheinbar endlose Jammern des durchschossenen
Louis, der auf der Straße verblutet, das leise Wimmern Louises, deren
Leibesfrucht soeben zertreten wurde, der brüllende Leo, wie er an den Stahlketten
hängt und um Hilfe ruft: die Regungen der Opfer sind so eindringlich, so
undramatisch inszeniert, dass sie beinahe unerträgliche Empathie herausfordern,
was kein konventionelles Gewaltklischee zulässt. Die darauf folgende Leere:
Louise in der stillen Wohnung, Lenny auf dem Friedhof lassen die Folgen spüren,
die die unwiderrufliche Zerstörungswut hervorgebracht hat. Ein Katergefühl
nach einem verderblichen Rausch, so könnte man die Atmosphäre der
letzten Filmbilder beschreiben. Ganz am Ende glaubt man nur zaghaft, dass es
nach all dem Vorgefallenen Lenny gelingen wird, etwas mit der spröden Lea
anzufangen, was jenseits des Filmes liegt.
Die
stille Welt emotionaler Autarkie, wie sie von den Figuren Leas und Louises verkörpert
werden, hat in einer Welt keinen Platz, wo an die Stelle von menschlicher Schwäche,
liebevoller Zuwendung und einem möglichst unvoreingenommen Blick auf die
eigenen Möglichkeiten der verzweifelte, kraftmeierische Ausdruck purer
Zerstörungswut getreten ist. Auch der scheinbar friedfertige Lenny, voll
gepumpt mit falschen, billigen Bildern einer lebensfremden Kunstwelt, die er
auswendig vorsagen kann, scheitert mit seinen zaghaften Versuchen, einen Kontakt
zu Lea aufzubauen; er kennt schlichtweg nichts anderes als die hermetische Bilderwelt
der Videofilme, was sogar Kitjo auf die Palme bringt. Die Männer wirken
durchweg liebesunfähig. Ihnen ist alles Liebevolle so fremd, wie Lea die
ihnen wohlbekannte Splatterwelt. Ihre Gesichter sind teilnahmslos, frei von
jeder Gefühlsregung.
Die
Filmbilder der verbrannten Falun-Gong-Anhänger zeigten einem Milliardenpublikum,
wie Bildergewalt, zum Zweck der systemtragenden Abstumpfung eingesetzt, ein
mächtiger Appell an die Duldsamkeits-Potenziale der Menschen sein können.
Manch abgestumpften, emotional verödeten Zeitgenossen können sie aber
auch auf die Idee bringen, durch Anwendung ihrer künstlichen, dramatisch
begründeten Dynamik auf sein Leben zu einer Erlösung zu kommen. Diesen
theologischen Aspekt der Gewalt – ihre realitätsferne Ikonographie, ihr
universelles Erlösungsversprechen, ihre väterliche Zuchtmeisterei,
die den konkreten Menschen zu einem schwächlichen, unwissenden Einzelwesen
ohne Charme und Liebenswürdigkeit abstempelt – macht die Besonderheit von
"Bleeder" aus. Aus der Allmachtperspektive des Gewaltblickes scheinen
die einzelnen Akteure mängelbehaftet und zu sozialer Interaktion und Kontaktaufnahme
unfähig. Der Blick des Filmes selbst jedoch scheint keinen eigenen archimedischen
Punkt mitten im Gewaltlabyrinth zu besitzen. Was am Beispiel Leos geschildert
wurde, kann aus den Blickwinkeln Lennys oder Louis’ zu ähnlichen Ergebnissen
führen.
Über
die Herkunft von Gewalt schweigt sich "Bleeder" aus. Es geht ihm um
eine exakte Beschreibung, wie gesellschaftlich latente Gewalt unter jungen Menschen
gehütet wird wie ein Geheimnis unter dem Deckmantel des Schweigens, der
Literatur, persönlicher Obsessionen, im Kleid der filmischen Gewalt, und
wie sie – falsch verstanden – ausbrechen kann. Einer plumpen Nachahmungstheorie
hängt der Film nicht nach, denn er zeigt, wie der Konsum von Gewaltfilmen
bei den verschiedenen Figuren auf völlig unterschiedliche Verhaltensformen
stoßt: Lenny, der am härtesten gesottene Trash-Junkie, verabscheut
reale Gewalt und handelt in heiklen Situationen deeskalierend. Auffällig
ist, dass die konsumierten Gewaltbilder für den Film so gut wie keine Rolle
spielen. Das gemeinsame Sehen, der Treffpunkt im Keller der Videothek: Es ist
die soziale Funktion des Filmesehens, das die sozial ziemlich desolate Situation
der Jungs einerseits vertuscht, andererseits wettmacht. Was bei Lenny zu einer
Abwehrreaktion führt, bricht bei einem eskalationsbereiten Charakter wie
Louis in mörderisches Imitationsverhalten aus. Gerade eine ambivalente
Figur wie Lenny zeigt, wie unmöglich und dennoch gewünscht es sein
kann eine Übertragungsform zu finden, die im Moment sozialer Ohnmacht zur
Umkehr in Potenz führt.
Wie
groß die Spannungen untereinander sind, zeigt das Ende des Films. Die
Momente des Filmkonsums, ihre Ritualisierung, unterschlagen ebendiese Gewaltlatenz.
Hier sind die Konsumenten gleich, passiv, mit Projektion beschäftigt statt
zu agieren, obschon draußen vor der Videothek ganz andere Hierarchien
spürbar sind. Zwar bilden die Filme den gewaltgeprägten, kalten, trashigen
Duktus ab, der die Lebenswelt der Hauptfiguren kennzeichnet. Gleichzeitig verhindert
er jede Auseinandersetzung, beruhigt und lässt in sonderbaren Unwelten
schwelgen. Wie brisant ein solch mediales Opium sein kann, sobald die soziale
Dynamik die unterdrückten Rivalitäten und Hasspotentiale aufreißt,
davon gibt “Bleeder” beredtes Zeugnis ab.
Vielleicht
deshalb, weil er nicht nach der frühen Entstehung der Gewaltbereitschaft
fragt, die die Protagonisten zur Filmgewalt und einige schließlich ins
Grab bringt, entlässt "Bleeder" den Zuschauer mit der Ungewissheit,
überhaupt irgendetwas gegen die Omnipräsenz der Gewalt mitten in der
Trostlosigkeit der Gegenwart zu unternehmen. Was seinen klaren Blick ermöglicht,
behindert den Regisseur, das Gewaltphänomen spielerisch, mit Witz und Distanz
zu bearbeiten. Gerade diese distanzlose Schwere hebt seinen Gewaltdiskurs ins
Theologische. Gewaltfreiheit gibt es für den Film allenfalls in einer Familie,
die liebevoll mit ihren Kindern umgeht, wie die junge Bekanntschaft Louises.
Wo
es nicht möglich ist, Emotionen zu artikulieren und auf ein einfühlsames
Gegenüber zu bauen, greifen die klischierten Stereotypen von Genrefilmen,
gewaltgeprägte Riten von Schuld und Rache, von Blutdurst und eiserner,
kalter Hierarchie, von exzessivem Hass umso wirksamer.
Was
einem neurotischen Intellektuellen einen phantastischen Kick versetzen kann,
wo er Allmachtsgefühle so ausleben kann, dass keine Auseinandersetzung
in der Realität stattfinden muss, kann bei entsprechender Disposition,
so der Film, in anderen Menschen modellhafte Züge annehmen. So weit, dass
die billige Ritualisierung von Männer-Stereotypen Einzug hält in eine
ahnungslose Wirklichkeit, sie aufsprengt wie eine zerstörerische Explosion.
Georg
Joachim Schmitt
Über
den Autor:
Georg
Joachim Schmitt arbeitete nach seinem Studium der Philosophie, Klassischen Philologie
und Kunstgeschichte mehrere Jahre hauptberuflich im Medienbereich, darunter
als Spielfilmredakteur, Jugendschutzbeauftragter und Producer. Heute lebt er
als Publizist, Autor und Produzent in Köln. Schmitt ist Stellvertretender
Vorsitzender der Hauptausschüsse der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft
(FSK) in Wiesbaden. Derzeit arbeitet er an einer Dissertation über “Authentizität
und Bildgewalt” an der Universität Mannheim. Im Juli vergangenen Jahres
erschien sein Buch „Die Allmacht des Blickes – Die Debatte um Mediengewalt im
zeitgenössischen Film“ in der edition nadir in Köln.
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: F.LM 1.1.2002
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Bleeder
Dänemark 1999
Länge: 98 min
Regie: Nicolas Winding Refn
Buch: Nicolas Winding Refn
Kamera: Morten Søborg
Schnitt: Anne Østerud
Musik: Peter Peter
Darsteller: Kim Bodnia, Mads Mikkelsen, Zlatko Buric, Liv Corfixen,
Levino Jensen, Rikke Louise Andersson, Claus Flygare, Ole Abildgaard u.v.a.
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