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Captain
Abu Raed
Der alte Abu Raed ist lebensmüde.
Seit seine Frau und sein Sohn gestorben sind, lebt er zurückgezogen in
der gemeinsamen Wohnung, in der ihn die Erinnerungen einholen. Jeden Abend,
nach der Arbeit als Putzkraft auf dem Flughafen von Amman, versinkt er in seine
Bücher. Abu Raed spricht Englisch, Französisch und Italienisch, aber
zu sehen kriegen wird er diese Länder nie. Nour dagegen war schon oft in
New York, Paris und London; glücklicher ist sie deswegen nicht. Die junge,
moderne Frau arbeitet als Pilotin für die Royal Jordanian Airlines, und
dennoch plagen sie Zweifel an ihrer Lebensplanung. Als Frau ohne Mann fällt
sie in der jordanischen Gesellschaft aus der Norm. Doch die Männer, die
ihr Vater anschleppt, betrachtet sie als Zumutung. Eher, sagt sie, würde
sie sich eine Kugel in den Kopf jagen. Der Junge Murad schließlich wünscht
sich nichts sehnlicher, als einfach zu verschwinden: weg aus seinem Elternhaus,
weg von seinem gewalttätigen Vater. Er hat das Träumen verlernt, bevor
sein Leben begonnen hat.
"Captain Abu Raed", der Debütfilm
des jordanischen Regisseurs Amin Matalqa, handelt von drei Menschen, die vor
dem Leben kapituliert haben. Was sie verbindet, ist der Gedanke an das Fliegen,
als Wunschvorstellung beziehungsweise Selbstverwirklichung. Im Grunde erzählt
Matalqa von einem Generationenprojekt, einer kommunitaristischen Gruppentherapie
in einem erweiterten Sinne. Hier hat jede Generation der anderen etwas anzubieten,
aber es bedarf erst eines Märchens, die drei zusammenzubringen. Statt einer
Wunderlampe, die Wünsche in Erfüllung gehen lässt, verbindet
Matalqas Figuren ein anderes Begehrensobjekt: eine Pilotenmütze, die Abu
Raed eines Tages in einer Mülltonne findet.
"Captain Abu Raed" ist ein bemerkenswerter
Film, wenn auch weniger in formaler Hinsicht. Seit seiner Premiere auf dem Sundance
Festival im Januar 2008, wo er mit dem World Cinema Audience Award ausgezeichnet
wurde, hat er einen phänomenalen Siegeszug angetreten. Auf seiner Tour
durch die internationale Festivalszene von São Paolo über Palm Springs
bis Helsinki gewann er 21 Preise und wurde für den Auslands-Oscar nominiert.
Regulär gestartet ist er bislang aber erst in drei Ländern: Jordanien,
Finnland, den Niederlanden - und ab dieser Woche nun auch in Deutschland. Diese
Situation ist nicht ungewöhnlich; dem mongolischen Liebesdrama „Tuyas
Hochzeit“, das 2006 in
Berlin den Goldenen Bären gewann, erging es ganz ähnlich. Die wachsende
Zahl von Filmfestivals hat in den vergangenen Jahren völlig neue Voraussetzungen
für die Verbreitung des sogenannten „Weltkinos“ geschaffen.
Es gibt heute einen globalen Nischenmarkt
von hochgradig diversifizierten, internationalen Arthouse-Produktionen. Der
Fokus hat sich dabei beträchtlich erweitert: Zählte noch bis vor wenigen
Jahren ein enger Kreis von traditionsreichen Filmländern wie Brasilien,
Ägypten oder die Türkei zum Kanon des "Weltkinos", versammeln
sich unter diesem etwas problematischen Label inzwischen auch immer häufiger
Produktionen aus Mauretanien, Thailand oder Peru. Mit etwas Glück begegnen
einem diese Filme manchmal in kommunalen Kinos oder in einem der sich stetig
weiter spezialisierenden Arthouse-Paläste; aber ihr angestammter Platz
sind heute vor allem Filmfestivals. Dieser Umstand macht sich inzwischen auch
in der Erzählweise vieler Filme bemerkbar. In den letzten Jahren ist verstärkt
ein bestimmter Typus von internationalem Kino zu beobachten, der auf Filmfestivals
reihenweise Preise abräumt. Stark regional verankerte Filme mit einen universalen
(wenn man so will „globalisierten“) Einschlag. Danny Boyles „Slumdog Millionär“
stellt gewissermaßen die Umkehrung dieses Prinzips dar: eine internationale
Produktion mit einer regionalspezifischen Ästhetik – des Bollywood-Kinos.
Auch Matalqa, der wie sein Produzent und
Cutter Laith Al-Majali lange in den USA gelebt und studiert hat, sucht den internationalen
Schulterschluss, ohne darüber regionale Spezifika zu vernachlässigen.
"Captain Abu Raed" vermittelt auf unaufdringliche Weise zwischen dem
Märchenhaften und der sozialen Realität Ammans: durch raues, lebensnahes
Lokalkolorit, das nie einem banalen Exotismus in die Falle geht, und aufmerksame
Beobachtungen des Stadtbildes. Wie sich zum Beispiel die Architektur auf der
Fahrt im Taxi langsam verändert. Trotzdem wird die westliche Schule, die
Matalqa durchlaufen hat, in den Bildern, aber auch seinen Figuren, deutlich
spürbar; er hat das Know-how der amerikanischen Filmindustrie sozusagen
in die erzählerischen Formen des "Weltkinos" überführt.
Matalqa arbeitet in "Captain Abu Raed" bevorzugt mit relativ kurzen
Einstellungen und fließenden Kamerafahrten, was seinen Film mitunter etwas
elegisch und glatt wirken lässt.
Mit seiner Grundstimmung zwischen Melancholie
und Aufbruch, vereinzelten gesellschaftskritischen Tönen und Empathie erzeugenden
Figuren hat "Captain Abu Raed" beim (westlichen) Publikum offensichtlich
einen Nerv getroffen. Matalqas Film hat darüberhinaus aber etwas, was auch
im internationalen Kino immer noch ein Glücksfall ist: überzeugende
kindliche Laiendarsteller, die tapferer als die Erwachsenen die Härten
des Alltags erdulden. Mit einem Lächeln in diesen ernsten Gesichtern (dank
jahrelanger Misereor- und Benetton-Kampagnen inzwischen selbst ein Klischee)
wäre die Geschichte eines jeden Filmlandes um ein paar denkwürdige
Kinomomente reicher.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz
Captain Abu Raed
Jordanien 2007 - Regie:
Amin Matalqa - Darsteller: Nadim Sawalha, Rana Sultan, Hussein Al-Sous, Udey
Al-Qiddissi, Ghandi Saber, Dina Ra'ad-Yaghnam, Mohammad Quteishat, Nadim Mushahwar,
Faisal Majali, Lina Attel, Ali Maher - Länge: 110 min. - Start: 12.3.2009
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