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Dekalog
Zehn
Filme, die unter die Haut gehen
Krzysztof
Kieslowski hat die zehn Gebote verfilmt
Es gibt solche Filme: Sie treffen einen mit einer Wucht, auf die
man nicht vorbereitet ist. Und dann lassen sie einen nicht mehr los. Bilder
haben sich tief ins Gedächtnis eingegraben, Worte klingen nach, oder auch
das Schweigen in einer Szene. Und man weiß, dass dieser Film etwas angesprochen
hat, das man nicht ganz und gar in Worte übersetzen kann. Eine Frage, die
einen unausgesprochen beschäftigte, eine Angst, die viele spüren und
keiner benennen kann: der Zweifel möglicherweise. So ein Film ist Krzysztof
Kieslowskis „Kurzer Film über das Töten”, der bei seiner Uraufführung
in Cannes 1988 noch die abgebrühtesten Filmkritiker tief verstörte.
Im Kino wird ja genügend gemordet und gestorben, und meistens
sieht es so aus, als wäre es genau der richtige, nichts besonderes oder
läge in der Natur der Sache. Der Film des polnischen Regisseurs Kieslowski
aber schien, als zeigte er zum ersten Mal, was das wirklich ist: Töten.
Das Schrecklichste, was in der Welt der Menschen geschehen kann, schrecklich
für das Opfer, schrecklich aber auch für den Täter.
Seitdem gehört „Ein kurzer Film über das Töten”
zu den Pflichtfilmen der Kinogeschichte, zu jedem Filmkanon, zu den anerkannten
Werken der internationalen Filmkunst. Eine Klassiker, gewiss, aber einer von
der Sorte, die noch beim wiederholten Ansehen mit ihrem grimmigem moralischen
Ernst schockieren. So weit kann Film von „Unterhaltung” sein, so nah am Leben.
„Ein kurzer Film über das Töten” ist die etwas längere
Kino-Fassung des fünften Teils einer zehnteiligen Reihe von Fernsehfilmen,
die unter dem Titel „Dekalog” stand. „Chaos und Unordnung beherrschten Polen
Mitte der 80er Jahre – überall, alles, praktisch jedermanns Leben”, so
erinnert sich der Regisseur Krzysztof Kieslowski an die Zeit, in der ihn sein
Freund und Co-Autor, der Rechtsanwalt Krzysztof Piesiewicz mit der schrecklichen
und genialen Idee konfrontierte, genau jetzt die zehn Gebote zu verfilmen. „Immer
häufiger hatte ich den unabweisbaren Eindruck, ich sähe Menschen,
die nicht wirklich wüssten, warum sie lebten”.
Es ist das Polen in der „Wende”, die sehr alten Werte (die der
katholischen Kirche) und die alten Werte (die des Sozialismus) funktionieren
nicht mehr, neue Werte sind nicht in Sicht, und die meisten der Menschen, die
hier leben, werden dann auch in der kapitalistischen Umformung nichts anderes
als Mitläufer und Verlierer sein. Mehr oder weniger war dieses Polen der
Plattenbau-Vorstädte, der ewiglaufenden Fernseher und der menschlichen
Isolation ein Bild dafür, wie man in ganz Europa zu leben gelernt hatte.
Man hatte sich woanders vielleicht nur schon länger daran gewöhnt.
Entstanden sind schließlich zehn einstündige Filme,
in denen Menschen im Mittelpunkt stehen, wie zufällig von der Kamera ausgewählt
aus den Bewohner einer Wohnsiedlung am Rande von Warschau, so wie sie sich an
allen Städten befinden: Das Ineinander von Nähe und Gleichgültigkeit,
von Enge und Einsamkeit. Einerseits ein sehr konkretes Stück polnischer
Gegenwart, und andrerseits ein Ort, wie aus einem absurden Theaterstück:
Das Normale ist die Hölle. Die großen moralischen Fragen werden nicht
in den Machtzentren der Politiker und Wirtschaftsbosse entschieden, nicht auf
Schlachtfeldern und in Verhandlungszimmern, sondern da, wo wir gerade leben,
wir Feiglinge, Klugscheißer, Gewalttäter, Betrüger und Jammerlappen.
Die Geschichten der „Dekalog”-Teile sind über diesen Ort,
fast schon ein Un-Ort, miteinander verbunden. Aber zur gleichen Zeit
sind es auch sehr unterschiedliche, völlig eigenständige Filme; jeder
Film hat einen eigenen Look, dafür sorgt schon der Umstand, dass der Regisseur
jedesmal mit einem anderen Kameramann zusammengearbeitet hat, und jedesmal ihn
ermunterte, seine ganz eigenen Ideen zu verwirklichen, von ganz traditionalistisch
bis abenteuerlich (wie in den Farbexperimenten des fünften Teils): Sehr
verschiedene Ansichten einer Sache, die von der fast unerträglichen Schilderung
der Gewalt in Dekalog 5 bzw. „Ein kurzer Film über das Töten” bis
hin zur schwarzen Komödie in Dekalog 10 reicht, Filme mit international
renommierten Schauspielern wie Jerzy Stuhr und Daniel Olbrychski und solche
mit bis dahin unbekannten Gesichtern. Die Figuren können einander begegnen,
ohne sich zu kennen; ein junger Mann allerdings kommt in (beinahe) allen zehn
Filmen vor. Er hat nichts mit der Handlung zu tun, er ist einfach da, man könnte
ihn einen Engel ebenso wie einen Teufel nennen.
Die zehn moralischen Versuchsanordnungen sind einerseits höchst
raffinierte Konstruktionen, mit vielen Bedeutungen und Nebenbedeutungen in jede
Kamera-Einstellung hinein, und immer geht es auch um die Kritik der Medien.
Es ist die Abhängigkeit der Menschen von ihren Medien, Fernsehen, Film
oder Computer, die auch eine Ursache für die Kälte ihres Lebens ist,
aber auch eine Chance zur Selbstbeobachtung und Erkenntnis. Man müsste
nur hinsehen können. Und selbst in den schrecklichsten Tragödien arbeitet
Kieslowski auch wieder mit Ironie, etwa wenn er im ersten Teil den Jungen, der
zum Opfer des Berechnungswahns seines Vaters wird, mit der Muppet-Figur von
„Kermit dem Frosch” verbindet. Andererseits ist das ganze Werk von einer geradezu
biblischen Einfachheit und Klarheit. Nur dass die Film keine eindeutigen Lösungen
geben, keine angenehmen Alltagsweisheiten und pädagogischen Hilfestellungen,
wie wir es aus unserer Fernsehkost gewohnt sind. „Ich würde”, hat der Regisseur
gesagt, „das Wort ‘Moral’ nicht einmal in den Mund nehmen. Denn das würde
bedeuten, dass ich Ratschläge geben wollte, oder dass ich sagen wollte,
wie dies oder das sein sollte. Aber ich weiß nicht, wie es sein sollte”.
Im „Dekalog” stellt Kieslowski Fragen, die Antworten muss man selber geben.
Die Filme werden moralisch so spannend, gerade weil sie auf jedes „Moralisieren”
verzichten.
Spät ist dieser Regisseur zu der Anerkennung gekommen, die
ihm eigentlich schon viel früher zugestanden hätte. Seit 1966 drehte
Kieslowski Dokumentar-, Fernseh- und Spielfilme, mit „Der Filmamateur” wurde
er 1979 immerhin unter Cineasten bekannt, manchmal waren seine Filme in den
Nebenreihen der großen Festivals zu sehen. Zu einem der anerkannten europäischen
Meisterregisseure aber wurde er erst durch das „DEKALOG”-Projekt, genauer durch
die beiden Filme, die aus dem Zusammenhang der Fernsehserie genommen auch in
den Kinos liefen, „Ein kurzer Film über das Töten”, 1988 ein fast
schon sensationeller Erfolg, und „Ein kurzer Film über die Liebe. Danach
arbeitete Kieslowski in Frankreich und hatte mit „Die zwei Leben der Veronika”
und der „Drei Farben”-Trilogie internationalen Erfolg. Oder sagen wir es ruhig:
Er ist unter Filmemachern und für Kinoliebhaber beinahe schon ein Heiliger
geworden, was übrigens kein ganz leichter Job ist. 1994, nach der Vollendung
der „Drei-Farben“-Trilogie, deren einzelne Filme, Rot, Weiß und Blau,
die Maximen der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit,
zum Thema haben, zog Kieslowski sich vom aktiven Filmemachen als Regisseur zurück.
Doch als Autor schrieb er unermüdlich weiter, eine nächste Trilogie,
„Himmel,
Hölle und Fegefeuer” war in Arbeit, aber
nur das Drehbuch zum ersten Film wurde noch fertig. Der deutsche Regisseur Tom
Tykwer verfilmte „Heaven” im Jahr 2002. Kieslowski starb, „erschöpft”, wie seine
Freunde sagten, von den gewaltigen Anstrengungen seines Werks, und tief enttäuscht
von den Entwicklungen im gewendeten Polen, 1996 an Herzversagen.
Was „DEKALOG” jedenfalls nicht ist, das ist eine „Illustration”
der zehn Gebote. Eigentlich sind es ganz einfach zehn moralische Tragödien.
Diese Geschichten gehen ans Fundamentale des Menschseins. Die Geschichte des
Professors, zum Beispiel, der an die Berechenbarkeit der Welt und die Computer
glaubt, und die Tragfähigkeit des Eises falsch berechnet, auf dem sein
Sohn Schlittschuh laufen geht; die Geschichte der Frau des sterbenskranken Mannes,
die von einem anderen schwanger ist und das Kind nur behalten will, wenn er
stirbt. Die Geschichte des jungen Mannes, der den Taxifahrer tötet, mitten
in einem getriebenen, belanglosen und elenden Alltag. Die Geschichte der Ethikprofessorin,
die mit der jüdischen Übersetzerin aus Übersee wieder mit der
Vergangenheit konfrontiert wird und alle Sicherheit im moralischen Management
des Lebens verliert. Die Beziehung zum jeweiligen Gebot kann man, muss man aber
nicht unbedingt christlich verstehen, schließlich sind sie in unterschiedlichen,
abgewandelten Formen die Grundlagen jeder Art von moralischer Basis. Sie gehören
zum Mensch-Sein, und zum Erzählen gehört es, das Übertreten der
Gebote zu schildern und das, was daraus folgt, an Schmerz, an Opfer, an Strafe.
Daher kann man Kieslowski vielleicht „den letzten großen
Metaphysiker des europäischen Kinos” nennen, wie es in der ZEIT geschrieben
wurde, aber viel mehr ist es auch eine Frage nach der Gesellschaft, die eben
gerade ohne die Verpflichtung „göttlicher” Gebote auskommen muss. Er ist
ein politischer Filmemacher.
„Bonusmaterial” auf DVDs sind in der Regel, wenn man Glück
hat, ganz hübsche Zugaben, und wenn man weniger Glück hat, ist es
einfach nur Selbstreklame, Müll und Zeugs, was halt so zufällig entstanden
ist oder irgendwo zu haben war. Auch das ist hier ganz anders: Auf einer Zusatz-DVD
werden zwei interessante Angebote zum besseren Verständnis des Filmwerks
dieses Regisseurs angeboten: Das lange Interview mit Kieslowski ist ein kleines
Meisterwerk der Kunstform „Gespräch”, wir kriegen nicht nur kluge Antworten
eines Regisseurs über sein Werk, wir können auch zuschauen, wie sich
eine Person, die von hause aus wohl eher spröde und verschlossen ist, im
Verlauf eines Gespräches öffnet und befreit. Der Film „Still Alive”,
ist die ideale Ergänzung dazu, hier wird Kieslowski in den Erinnerungen
seiner Freunde, seiner Stars, seiner Mitarbeiter, seiner Schüler, seiner
Kollegen und seiner Bewunderer lebendig: Ein Mann, der es mit dem Film ernst
meinte, der Film lebte, und der für den Film dieses Leben einsetzte und,
natürlich, verlieren musste.
Auch in technischer Hinsicht sind die auf fünf DVDs verteilten
Filme optimal: Die Abtastung der Filme wurde direkt von den Masterbändern
des polnischen Fernsehens hergestellt und dabei ist insbesondere die einzigartige
Behandlung der Farben genau zu studieren. Denn am Ende sind die zehn „Dekalog”-Filme
auch das: Lehrstücke zum Kino-Machen und Kino-Sehen.
Georg Seeßlen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: filmspiegel 02/ 2009
Dekalog
Polen,
1988/89
Regie:
Krzysztof Kieslowski
Buch:
Krzysztof Piesiewicz, Krzysztof Kieslowski
Kamera:
Piotr Sobocinski, Wieslaw Zdort
Schnitt:
Ewa Smal
Produktion:
Poltel, SFB
Musik:
Zbigniew Preisner
Darsteller:
Henryk Baranowski, Wojciech Klata, Maja Komorowska, Artur Barcis, Krystyna Janda,
Akesander Bardini, Olgierd Lukaszwicz, Daniel Olbrychski, Maria Pakulnis, Joanna
Szczepkowska, Adrianna Biedrzynska, Janusz Gajos, Miroslaw Baka, Krzystof Globisz,
Jan Tesarz, Grazyna Szapolowska, Olaf Lubaszenko, Stefania Iwinska, Anna Polony,
Maja Berelkowska, Wladyslaw Kowalski, Bogoslaw Linda, Maria Kozcialkowska, Teresa
Marczewska, Tadeusz Lomnicki, Ewa Blaszczyk, Piotr Machalica, Jan Jankowski,
Jerzy Stuhr, Zbigniew Zamachowski, Henryk Bista, Olaf Lubaszenko
DVD
DEKALOG
(Kieslowski) - 5 DVD
Ein
Filmzyklus in 10 Teilen von Krzysztof Kieslowski
5
x DVD 5 PAL im Schuber, 4:3, Farbe, 563 Min. Gesamtdauer, Ton: Stereo, Sprachen:
Deutsch, Polnisch
ISBN:
978-3-89848-927-0 Best.
Nr.: 149 Preis: € 69,90
EAN:
978-3-89848-927-0
erhältlich
bei: absolut
Medien
unter: http://www.absolutmedien.de/main.php?view=film&id=1318