zur startseite
zum archiv
Die
dünnen Mädchen
Erbsenzähler
Sie ist bekanntermaßen eine der
gravierendsten Zivilisationskrankheiten: die Anorexia nervosa oder Magersucht.
Dokumentarfilmerin Maria Teresia Camoglio hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesem
Phänomen auf den Grund zu gehen, indem sie die befragt hat, die vielleicht
am ehesten zur Aufklärung beitragen können: die Erkrankten selbst.
Die dünnen Mädchen rückt auf unprätentiöse
Weise ebendiese in den Mittelpunkt – ohne jedweden Kommentar. Das bewirkt, dass
man tatsächlich hineingesogen wird in eine Parallelwelt. In eine Welt,
in der sich erwachsene Menschen ganze Abende lang darüber streiten, wie
viele Kalorien noch nötig sind, um das Tagespensum zu erfüllen. In
der sie in Tränen ausbrechen, wenn sie erfahren, dass sie wenige hundert
Gramm zugenommen haben. In einer Spezialklinik versucht eine Reihe junger Frauen
teilweise seit vielen Monaten, ein Selbstwertgefühl zu erlangen, das es
ihnen ermöglicht, von ihrer Sucht, möglichst wenig zu essen, loszukommen.
Ursachen für ein Abrutschen in ein fernab von vernunftgesteuertem Denken
ablaufendes Alltagsleben gibt es viele. Der Wunsch nach der Erfüllung eines
extremen Schönheitsideals ist meist nur ein kleines Puzzleteil. Oft ist
es eher der Ausdruck von großer seelischer Einsamkeit, eine mehr oder
weniger unbewusste Erregung von Aufmerksamkeit für essentielle Nöte.
Wenn man Camoglios Stichprobenwahl Repräsentativität
unterstellt, sind die Betroffenen häufig intelligente junge Frauen, die
über ihr Verhalten sehr gründlich zu reflektieren wissen. Das Problem
jedoch ist, dass sie aufgrund einer Art Entkopplung von Körper, Gefühl
und Verstand aus ihren Erkenntnissen keine Konsequenzen für ihr Handeln
ableiten können. Dieses Dilemma und die verzweifelten Versuche eines Entrinnens
daraus versteht die Regisseurin sehr gut abzubilden. Sie maßt sich nicht
an, aus ihren Beobachtungen Lösungsansätze abzuleiten – das Vertrauen
jedoch, das sie bei den Protagonistinnen der Kamera gegenüber geschaffen
hat, führt dazu, dass betroffene Angehörige in Die
dünnen Mädchen
vielleicht mehr Verstehenshinweise hinsichtlich des Denkens Magersüchtiger
finden als irgendwo sonst.
Daniel Albers
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Die
dünnen Mädchen
Deutschland
2008 - Regie: Maria Teresa Camoglio - Darsteller: Dokumentation - Prädikat:
besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 90 min. - Start: 15.1.2009
zur startseite
zum archiv