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Eine
offene Rechnung
„Eine offene Rechnung“ ist das Remake des israelischen Spielfilms „Ha-Hov“ (2007),
der hierzulande unter dem Titel „Der Preis der Vergeltung“ im Fernsehen ausgestrahlt
wurde. Darin geht es um die Identifikation und Entführung eines NS-Täters,
der sich in Ost-Berlin als Gynäkologe unter anderem Namen eine neue Identität
aufgebaut hat. Angelehnt an die Eichmann-Entführung, erzählt der Film
eine heroische Geschichte, der unter der Hand der Heroismus ausgetrieben wird.
Als „Spionagethriller“, wie ihn der deutsche Verleih apostrophiert, sollte man
das Remake von John Madden („Shakespeare in Love“,
fd 33 570) jedoch nicht bezeichnen, eher schon als den Nachzügler eines
„Geheimdienstthrillers“. Nur sehr bedingt handelt es sich hierbei um Wissenstransfer
auf der elementaren Ebene, sondern ganz handfest um die ausführliche, sehr
geduldige Schilderung der Vorbereitungen zu einer Entführung während
des Kalten Kriegs, deren Scheitern und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Und es geht um die Schuld, die den Handelnden, die zugleich traumatisierte Holocaust-Überlebende
sind, daraus erwächst, dass sie sich dafür entscheiden, mit einer
Lüge zu leben, um sich als Helden feiern zu lassen, was ihrer Nation als
symbolisches Kapital zuwächst: der Mossad als Mythos. Nicht zuletzt erzählt
der Film von der Schuld, die das Zielobjekt der Entführung in einem früheren
Leben als „Chirurg von Birkenau“ auf sich geladen hat.
Unzuverlässiges Erzählen also, in jeder Hinsicht. Seeing is believing, doch manchmal ändert ein erweitertes Blickfeld alles. Was alles geschehen kann, wenn ein Schauspieler-Regisseur wie John Madden mit einem hochkarätigen, sehr engagiert agierenden Ensemble einen Agentenfilm dreht: Die Action wird mal mehr, mal weniger ins psychologische Kammerspiel transferiert. Mitte der 1960er-Jahre bereiten drei Mossad-Agenten – zwei Männer und eine Frau – eine spektakuläre Aktion in Ost-Berlin vor. Der lange Zeit gesuchte KZ-Arzt Dieter Vogel soll ausgeforscht und entführt werden, um ihn in Israel vor ein Gericht zu stellen. Der Film betont das Professionelle und Handwerkliche dieser Konstellation, spielt mit der Dauer bestimmter Vorgänge, nutzt Montage und Figurenperspektiven, um Spannung zu erzeugen. Das mag man als altmodisch empfinden, doch der Film bezieht seine Spannung daraus, dass sich drei bestens ausgebildete Profis im Feindesland möglichst unauffällig einrichten müssen, um eine von langer Hand geplante Aktion erfolgreich umsetzen zu können. Tatsächlich ist es eine Frage des professionellen Ethos, dass hier nichts schief läuft.
Die Aktion besteht aus drei Phasen, die alle ihre Zeit brauchen: ausspähen,
entführen und nach Israel schaffen. Dummerweise mischt sich bereits in
der ersten Phase das romantische Begehren störend ins Spiel. Eine unsichere
junge Frau, Rachel, zwischen zwei Männern, David und Stefan, die beide
auf sehr unterschiedliche Weise „out on a mission“ sind. Nicht Rache, sondern
Gerechtigkeit sollte das Ziel sein, doch geht es sehr konkret auch um eine ganz
persönliche Rache am Täter. Der erste Teil des Plans geht perfekt
auf; der zweite Teil scheitert an einer Abfolge von läppischen Zufällen
und kleinen Unachtsamkeiten. Jetzt sitzt das Trio gemeinsam mit dem Monster
in der Falle – wobei der dämonische NS-Verbrecher demonstriert, dass er,
wenn nötig, noch immer recht subtil die menschliche Psyche zu manipulieren
versteht. Dass Vogel ausgerechnet in Ost-Berlin untergetaucht ist, wäre
vor 1989 nicht durchgegangen. Überhaupt sieht die Stadt so kalt und heruntergekommen
aus, dass man sich fast in „Der Spion, der aus der Kälte kam“ (fd 13 939)
wähnt. Schließlich landet der Film wieder am Anfang, doch nichts
ist mehr so, wie es scheint. Genau dieser Schein aber ist politisch opportun
und gewünscht. Es dauert einige Jahrzehnte, bis sich überraschenderweise
eine neue Chance auftut, die Dinge von 1965/66 zu richten. Im Vergleich zu postmodernen
Glasperlenspielen wie „21 Gramm“ (fd 36 365) scheint
die Verschränkung der Zeitebenen recht simpel, aber enorm effektiv – wenn
man einmal davon abstrahiert, dass ein KZ-Arzt, der 1997 in der Ukraine in einem
Heim für Demenzkranke untergetaucht ist, doch schon etwas hinfälliger
agieren sollte als es Jesper Christensen im Finale tut. Schwerer wiegt, dass
die 1965/66 spielende Geschichte ungleich interessanter und spannender ist als
die des Jahres 1997. Allerdings ist die gegenwärtige Geschichte mit den
weit bekannteren Darstellern besetzt, was psychologische Tiefe suggeriert, aber
spätestens dann albern wird, wenn sich die Best-Agerin Helen Mirren in
der Ukraine plötzlich in die Superagentin verwandelt, die sie im Verlauf
des Films zuvor nie war.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film Dienst
Eine offene Rechnung
USA 2010 - Originaltitel: The Debt - Regie: John Madden - Darsteller: Helen
Mirren, Sam Worthington, Jessica Chastain, Jesper Christensen, Marton Csokas,
Ciarán Hinds, Tom Wilkinson, Romi Aboulafia - Prädikat: besonders
wertvoll - FSK: ab 16 - Länge: 113 min. - Start: 22.9.2011
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