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Eine
Saison in Hakkari
Häuser in einem anatolischen Gebirgsdorf:
von außen sieht man die rohen Steinblöcke, aus denen die Mauern gefügt
wurden, innen schimmert die Struktur der Steine durch den dünnen, rauhen
Verputz. In einer anderen Umgebung würden diese Häuser trostlos wirken,
hier verbreiten sie ein Gefühl von Geborgenheit, obwohl sie wie Schwalbennester
über Abgründen zu hängen scheinen. An manchen Stellen sind sie
so eng zusammengedrängt, daß ein Mann die Schultern schräg stellen
muß, um zwischen den Mauern hindurchzugehen. Es gibt keine Straße
zu diesem Dorf, keine Stromleitung und kaum eine Verbindung zur Außenwelt.
Ein Fremder kommt an, mühsam zu Fuß,
ein Lehrer für den Winter: keiner geht ihm entgegen. Die Menschen, auf
die er bei seiner Ankunft trifft, wirken so steinern wie die Häuser. Hinter
einer Scheibe das Gesicht einer Frau, es gleicht einer Ikone. Männer treten
in den Vordergrund, voller Zweifel, ob der Lehrer wirklich bleiben wird; Frauen
werfen aus dem Hintergrund verstohlene Blicke auf sie und rennen weg, wenn ihre
Blicke erwidert werden. Wenn Zazi, die Frau des Dorfvorstehers, mit dem Lehrer
reden will, hat sie ihren Jungen dabei; nur er spricht, wie ein Dolmetscher.
Für den Unterricht muß der Lehrer Hefte und Bleistifte im Tal besorgen.
Wenn die Kinder krank werden, so gibt es keinen Arzt, der kommen würde.
Auch nach dem Tod mehrerer Kinder unternehmen die Behörden nichts. Die
Männer kaufen und verkaufen Frauen, vermutlich seit endlosen Zeiten. Nachts
hört man die halbwilden Hunde Wölfe verbellen. Am Tag muß man
sich die Hand oft schützend über die Augen halten, wenn man aus den
Zimmern mit den halbblinden Scheiben und den trüben Petroleumfunzeln ins
Freie tritt; der Schnee, der alles bedeckt, dessen Kälte und Feuchtigkeit
in die Menschen und ihre Behausungen eindringt, liegt hier länger als ein
halbes Jahr.
Eine erzählbare Geschichte, mit Anfang,
Entwicklung und Ende, scheint in dieser Monotonie nicht möglich zu sein;
auch der Lehrer verliert bald jegliches Zeitgefühl. Geschichten entstehen
hier nur als Fragmente, und nur durch die wenigen Berührungen des Dorfes
mit der Außenwelt. Die Anwesenheit des Lehrers zum Beispiel setzt solche
Fragmente in Gang; in ihm sehen die Leute einen Gesprächspartner, beginnen
zu reden und zu reagieren, ohne daß er sie letztlich aus ihrer Lethargie
lösen könnte. Am Ende hat sich zwar etwas verändert, denn Zazi
verweigert sich ihrem Mann, als der eine Nebenfrau nimmt, und der Lehrer beginnt
zu zweifeln, ob das vermittelte Wissen den Kindern überhaupt etwas nützen
würde - aber mit seinem Abschied schließt sich ein Kreis, der nächste
lange Winter wird vermutlich verlaufen wie dieser. Als der Lehrer das Dorf verläßt,
hat er den Koffer nicht mehr dabei, den er bei seinem Anmarsch noch geschleppt
hatte.
Erden Kirals »Saison in Hakkari«
ist ein sehr stiller, ruhig beobachtender Film, sein Erzählprinzip gleicht
den schriftlichen Aufzeichnungen der Kinder, die in ihrem Heft Wörter notieren.
Eine Aufzählung, nebeneinander gestellte Substantiva, elementare Begriffe
der Dorfbewohner, durch keinerlei Syntax organisiert: das Haus, der Berg, der
Schnee..., und doch entsteht mit ihnen eine in ihrer Askese ebenso archaisch
wie modern wirkende Lyrik, konkret und
genau. Kiral gibt dabei nicht vor, das
Dorf besser zu kennen als der neue Lehrer. Von einer nächtlichen Schießerei
sehen er und wir nur die gefundenen Patronenhülsen; die Schlitten, auf
denen in halsbrecherischer Fahrt Reisig ins Dorf gebracht wird, zeigt die Kamera
erst bei ihrer Ankunft, und im Zimmer der Schule scheinen mehr Kinder zu sitzen,
als es die Zahl der Erwachsenen, die man zu sehen bekommt, erwarten läßt.
Vorsichtig, ohne voreilige Parolen, eher ratlos gegenüber der Realität,
reflektiert Kiral über Lösungen, die er nicht parat hält; er
weiß nur, was er seinen Lehrer zum Abschied sagen läßt: diese
Unterentwicklung ist nicht Schicksal, sondern veränderbar. Das mag manchem
zu unpolitisch klingen, und tatsächlich nimmt dieser Film ästhetisch
und letztlich wohl auch in der Frage nach politischen Strategien eine klare
Gegenposition zu den Arbeiten von Yilmaz Güney ein. Ein Werturteil zwischen
beiden zu fällen hieße freilich, Lyrik und Dramatik gegeneinander
auszuspielen.
Hans Günther Pflaum
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film Januar 1984
Eine
Saison in Hakkari
HAKKARI
DE BIR MEVSIM Türkei/Bundesrepublik Deutschland 1982. Regie: Erden Kiral.
Drehbuch: Onat Kutlar nach einem Roman von Ferit Edgü. Kamera: Kenan Ormanlar.
Schnitt: Yilmaz Atadeniz. Musik: Timur Selçuk. Ton: Cemil Kivang. Produktion:
DATA A.S./ Kentel Film. Verleih: KinoFilm. Länge: 3030m (109 Min). Erstaufführung:
23.2.1983, 33. Internationale Filmfestspiele Berlin - Wettbewerb. Kinostart:
6.1.1984. Darsteller: Genco Erkal (Lehrer), Serif Sezer (Zazi), Erkan Yücel
(Halit).
Film
des Monats der Ev.Filmarbeit Aug.83
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