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Ein
Prophet
Der
Aufsteiger
Im
beeindruckenden Gefängnisfilm "Ein Prophet" von Jacques Audiard
wird das Geschäftemachen im Knast gelernt
Propheten
müssen des Lesens und Schreibens nicht mächtig sein. Es reicht schon
ein guter Draht zu einer höheren Instanz. Gott sprach zu Moses aus einem
Dornbusch, Mohammed bekam die heiligen Worte durch den Erzengel Gabriel auferlegt.
Die Gelehrten sind sich bis heute uneins, ob er das, was er da hörte, überhaupt
selbst niederschreiben konnte. Die Exegese gilt in den Weltreligionen als Schlüssel
zur Erkenntnis, im Islam überträgt sich die Bedeutung der Textarbeit
sogar auf den Namen der heiligen Schrift selbst. Der Begriff Koran bedeutet
so viel wie Rezitation.
Der
Geist eines Toten
Der
19 Jahre alte Malik hat das Lesen und Schreiben nie gelernt, er ist auch alles
andere als eine religiöse Figur - ein persönlicher Einflüsterer
steht ihm in Jacques Audiards preisgekröntem Gefängnisfilm "Ein
Prophet" dennoch zur Seite. Ein dunkles Geheimnis verbindet die beiden:
Malik hat seinen Mithäftling Reyeb getötet. Seitdem weicht ihm dessen
Geist nicht mehr von der Seite. Maliks Gabe ist keine göttliche Fügung,
sondern Ausdruck einer verdrängten Schuld. Der Mord markiert für ihn
in doppelter Hinsicht eine Transzendenzerfahrung. Der Neuling sichert sich den
Schutz des korsischen Patrons César (Niels Arestrup) und wird damit in
der streng tribalistischen Gefängnishierarchie zum Quereinsteiger. Gleichzeitig
verleiht ihm Reyebs Anwesenheit seherische Fähigkeiten, mit deren Hilfe
er seinen Einflussbereich innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern
langsam ausbaut. Malik spricht sozusagen mit fremder Zunge, verfolgt seine persönlichen
Interessen jedoch äußerst zielstrebig.
Audiard
beruft sich mit "Ein Prophet" auf ganz unterschiedliche französische
Kinotraditionen. Sein direkter Bezugspunkt ist das Gangsterkino der Siebzigerjahre
à la Henri Verneuil und Jacques Deray; er verbindet diese Einflüsse
mit Motiven Bressons (die asketische Strenge, die Frage nach Schuld und Moral,
die Logik des Geldverkehrs) und überführt alles in die Formsprache
jenes dringlichen Realismus, wie ihn die Kritik am neuen Gangsterfilm ("Gomorrha")
in den letzten Jahren so schätzen gelernt hat.
Audiard
gilt nicht erst seit "Lippenbekenntnisse" und "Der
wilde Schlag meines Herzens"
als Regisseur, der seinen Blick über die Grenzen eines Genres hinaus zu
öffnen versteht. Im Fall von "Ein Prophet" stellt das zunächst
eine Herausforderung dar, weil der Film mehr als eine Stunde braucht, um seinen
zentralen Handlungsort erstmals zu verlassen. Im Gegensatz zu aktuellen Tendenzen
geht es Audiard aber auch weniger um eine Vielstimmigkeit in der Zeichnung eines
Milieus als um eine Verschiebung der Blickachse. "Ein Prophet" bleibt
bis zum Ende ganz nah an seiner Hauptfigur dran.
Sozialer
Vertrag gekündigt
Maliks
Beziehung zu seinem Mentor César Luciani und seine Freundschaft mit Ryad
folgt dabei noch weitgehend den Konstellationen des klassischen Gefängnisdramas.
Reyeb hingegen kommt in diesem Triumvirat eine wichtige Funktion zu, und dieser
zwischenmenschliche Konflikt ist es auch, der "Ein Prophet" in seinen
besten Momenten interessanter aussehen lässt als das großartig inszenierte
Genrekino, das er im Grunde ist. Hier verleiht Audiard seinem Film wirklich
gesellschaftliche Brisanz. Denn der Mord an Reyeb kommt gewissermaßen
der Kündigung eines sozialen Kontrakts gleich: Malik wird durch den Mord
an einem anderen maghrebinischen Migranten mitten in das Machtzentrum der korsischen
Mafia befördert. Die Korsen, das hat schon Asterix-Autor Goscinny sehr
pointiert beschrieben, sind ein stolzes Völkchen voller Marotten. In "Ein
Prophet" wird nun der alteingesessene korsische Mob mit den neuen Realitäten
in französischen Gefängnissen konfrontiert. Dass die Gewaltverhältnisse
auch im Knast nach dem Mehrheitsprinzip organisiert sind, realisiert César
erst, als ihm ein Wärter die bisher gewährte Unterstützung mit
Hinweis auf die zahlenmäßige Überlegenheit der arabischstämmigen
Gefangenen versagt.
Gemäß
den klassischen Genrevorbildern funktioniert auch "Ein Prophet" außerhalb
einer verbindlichen Moralität. Malik ist für Sarkozy-Frankreich, was
Al Pacinos Tony Montana in "Scarface" einst für Reagans Amerika
verkörperte: der Vertreter einer rasch wachsenden gesellschaftlichen Minderheit,
der für sein Recht, an den Umverteilungskämpfen des neuen Kapitalismus
zu partizipieren, rücksichtslos einsteht. Nur gut, dass Audiard mit Tahar
Rahim für diese schwierige Figur ein so hübsches wie sympathisches
Gesicht gefunden hat. Sein Malik hat sich seinen Erfolg aber auch hart erarbeitet.
Das wirtschaftliche Einmaleins für seine Geschäfte eignet er sich
direkt im Gefängnisunterricht an. Als wichtigste Lektion gibt ihm sein
guter Geist Reyeb noch die Worte Mohammeds auf den Weg: Lies! Wenn er in der
letzten Einstellung schließlich das Gefängnis hinter sich lässt,
deutet die Kolonne schwarzer Limousinen im Hintergrund an, dass aus dem Prophet
selbst ein Anführer geworden ist.
Andreas
Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: taz
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Ein
Prophet
UN
PROPHÈTE
Frankreich/Italien,
2009
Produktion :
Why Not Prod./Page 114/France 2 Cinéma/UGC/BIM Distribuzione
Produzent :
Martine Cassinelli , Lauranne Bourrachot , Marco Cherqui
Regie :
Jacques Audiard
Buch :
Thomas Bidegain , Jacques Audiard
Kamera :
Stéphane Fontaine
Musik
Alexandre Desplat
Schnitt:
Juliette Welfling
Darsteller:
Tahar Rahim (Malik), Niels Arestrup (César Luciani), Adel Bencherif (Ryad),
Reda Kateb (Jordi), Hichem Yacoubi (Reyeb), Jean-Philippe Ricci (Vettori), Gilles
Cohen (Prof), Antoine Basler (Pilicci), Leila Bekhti (Djamila), Pierre Leccia
(Sampiero), Foued Nassah (Antaro), Jean-Emmanuel Pagni (Santi)
Länge:
150 Minuten
Verleih:
Kino: Sony/filmcoopi (Schweiz)
Start (D): 11.03.2010
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