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Ein
Prophet
Virtuoser
Hermeneut
Jacques
Audiards "Ein Prophet" will eine Subjektwerdung zeigen und tut das
Gegenteil.
Malik
ist, wenn er den Film und am Anfang des Films das Gefängnis betritt, ein
unbeschriebenes Blatt. Unbeschrieben und Analphabet und doch auf dem Weg zu
werden, was ihm und uns der Titel verspricht: "ein Prophet". Er ist
der Held dieses Films, als Blatt, das beschrieben wird, als Assistenzfigur für
uns, die Betrachter, die wir von dem Ort, an den er gerät, allermeist nichts
wissen außer das, was wir gesehen haben in den Gefängnis- und Mafiafilmen,
die wir so kennen. Mit seinen Augen sehen, mit seinen Sinnen erfahren wir für
die Dauer des Films (und er ist lang) den sozialen Raum, der Gefängnis
heißt. Das geht so weit, dass wir nicht nur die Realität mit ihm
teilen, sondern auch die Fantasie. Er tötet einen Mann und wird von diesem
verfolgt. Wieder und wieder ist der tote Mann auch für uns leibhaftig im
Bild.
Damit,
dass er uns zeigt, was nicht wirklich ist, verlässt der Film das sozialrealistische
Register. Er führt ein Inneres außen vor, als eingebildete Realität.
Diese Grenzüberschreitung ist charakteristisch für "Ein Prophet"
im Ganzen. Sie ist ein großes Problem dieses Films, der sich wieder und
wieder den Anschein einer Geschichte aus dem wirklichen Leben zu geben sucht
und versteht. Er sieht aufs Detail; mehr noch: er betont, dass er aufs Detail
sieht. Die geflüsterten Worte, die Gesten, die konspirativen Blicke, der
Hof, die Zellen, die Gänge, das Gefängnis als hoch kodierter Raum.
Durchzogen von Grenzen und Machtzonen, die ein unbeschriebenes Blatt erst am
eigenen Leib und an der eigenen Seele zu erkennen lernt. Die Verhältnisse,
in die er geraten ist, schreiben mit Blut, bevor er selbst gegen sie mit Tinte
anzuschreiben lernt. Insofern erzählt der Film einen Bildungsroman. Malik,
der ein Nobody ist, wird lernend und lernend ein Jemand. (Er lernt lesen, er
lernt die Zeichen zu deuten, er lernt die Korsen zu verstehen, er lernt, Leute
zu manipulieren.) Er wird von der Assistenzfigur für unseren Blick zum
Helden, der mit großem Geschick zwischen den Fronten zu manövrieren
versteht. Mit Wohlgefallen sehen wir auf ihn, der von der mordenden Unschuld
zum mächtigen Monster wird.
Aber
wird er auch zum Subjekt? Der Struktur nach ist er eher ein Virus. Ein Virus
mit Intelligenz und Einbildungskraft. Eingeschleust in eine fremde Welt, der
er sich anzupassen, in der er sich zu behaupten, die er zu manipulieren lernt.
Die Umwelt, in die er gerät, das Habitat für das unbeschriebene, beschreibende,
sich selbst beschreibende Blatt, ist klar strukturiert, für den, der zu
sehen gelernt hat: Malik ist Araber und er entarabisiert sich, zum Schein. Die
Macht haben die Korsen. Der Oberkorse heißt Cesar Luciani. Er ist der
Mafiaboss aus dem Bilderbuch, brutaler Übervater, der Vergünstigungen
gewährt und entzieht. Sein Vertrauen gewinnt unser Araber, unser Virus,
unser Prophet Malik. Er nistet sich ein, er wird unverzichtbar und es gibt den
Punkt, an dem diese Unverzichtbarkeit in schiere Macht umschlägt. Malik
nutzt mit Geschick die Gunst einer Situation, in die er durch Glück und
Verdienst geraten ist.
"Ein
Prophet" ist der Bildungsroman eines Virus', ein Märchen aus der Welt
erfolgreicher Überanpassung. Jacques Audiard zeigt uns, wie dieser Held
tickt, nämlich nach Bombenart. Er zeigt uns, wie sein Inneres aussieht:
sein Opfer verfolgt ihn im Bild. Er zeigt uns, wie klug und clever er ist, wie
er von den Tätern lernt, ein Täter zu sein. Zum Subjekt aber, einer
Figur also, bei der für uns außen ein klarer und nachvollziehbarer
Zusammenhang auszumachen ist zwischen dem, was sie will, denkt und tut, wird
Malik doppelt nicht. Erstens nicht, weil sein Verhalten von Anfang bis Ende
unter Anpassungsgesichtspunkten steht. Eine Figur, die nicht weiß, warum
sie will, sondern eine, die einzig von ihrem Willen zur Anpassung zu einem Wollen
gedrängt scheint, das nie als autonomes ersichtlich wird. Am Ende erstrahlt
dieser Held in vollendeter Heteronomie. Der Film aber stellt das, vom Genre
gezwungen, gegen das er niemals aufzubegehren versucht, als gelungene Subjektwerdung
hin.
Zweitens
nämlich wird Malik nicht zum Subjekt, weil Audiard es nicht lassen kann,
seine Erzählung in einen Mythos zu transformieren. Bei aller vorgeblichen
soziologischen Genauigkeit ist alles an dieser Geschichte immer zugleich unterbestimmt
und überlebensgroß - eben Mythos. "Ein Prophet" ist ein
Genrefilm, der nicht die Abweichung von den Regeln des Genres sucht, sondern
ihre Überhöhung. Der korsische Mafiaboss, der todkranke Gefährte,
der Mord, das Schuldgefühl, das Gefängnis als Raum, der Aufstieg des
Helden, seine Transformationen vom Analphabeten zum virtuosen Hermeneuten einer
komplizierten Situation, vom Niemand und Nichts zum Propheten - in diesem Wort,
dem Titel des Films kulminiert es: des Guten mit Absicht zu viel, alles andere
als ein Witz. Indem er ins Mythische wendet, affirmiert der Film, was er zeigt,
ob er will oder nicht. Auf den Triumph, der im letzten Bild liegt, will "Ein
Prophet" hinaus vom ersten Bild an. Er macht ein Monster zum Mythos nach
allen Regeln der Kunst.
Ekkehard
Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Ein
Prophet
UN
PROPHÈTE
Frankreich/Italien,
2009
Produktion :
Why Not Prod./Page 114/France 2 Cinéma/UGC/BIM Distribuzione
Produzent :
Martine Cassinelli , Lauranne Bourrachot , Marco Cherqui
Regie :
Jacques Audiard
Buch :
Thomas Bidegain , Jacques Audiard
Kamera :
Stéphane Fontaine
Musik
Alexandre Desplat
Schnitt:
Juliette Welfling
Darsteller:
Tahar Rahim (Malik), Niels Arestrup (César Luciani), Adel Bencherif (Ryad),
Reda Kateb (Jordi), Hichem Yacoubi (Reyeb), Jean-Philippe Ricci (Vettori), Gilles
Cohen (Prof), Antoine Basler (Pilicci), Leila Bekhti (Djamila), Pierre Leccia
(Sampiero), Foued Nassah (Antaro), Jean-Emmanuel Pagni (Santi)
Länge:
150 Minuten
Verleih:
Kino: Sony/filmcoopi (Schweiz)
Start (D): 11.03.2010
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