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Ein
Prophet
Für
welche Verbrechen der 19-jährige Malik El Djebena konkret zu den sechs
Jahren Gefängnis verurteilt wurde, die zu seiner Ausbildung dienen, wird
im neuen Film von Jacques Audiard („Der
wilde Schlag meines Herzens“,
fd 37 225) explizit ausgespart. Man ist gezwungen, einige im Lauf des Films
ausgeteilte Indizien und Informationen zu deuten: Malik ist ein Waisenkind mit
Heim-Karriere und hat sich, so hat es zumindest den Anschein, bislang mit Kleinkriminalität
durchgeschlagen: keine Bildung, keine Religion, keine Identität, keine
familiären oder kulturellen Wurzeln.
Allerdings
dauert es nicht lange, bis sich die brutalen, bestens vernetzten korsischen
Mafiosi um den mächtigen César Luciani den zunächst überforderten
Malik ausgeguckt haben, um einen ausgehandelten Mord an einem Mithäftling
zu begehen, der als Zeuge der Staatsanwaltschaft dienen soll. Bevor dieser ermordet
wird, rät er seinem ungebildeten Mörder, die Zeit im Gefängnis
zu nutzen, um diesen Ort am Ende klüger zu verlassen als er ihn betreten
habe. Ist das die titelgebende Prophezeiung? Nach dem Mord wird Malik von den
Korsen, die im Gefängnis das Sagen haben, protegiert und steigt zu einer
Art Faktotum in der Knast-Hierarchie auf. Seine erste Lektion im Gefängnis
hat er gelernt: Töten oder getötet werden! Doch die traumatische Erfahrung
des Tötens wird ihn noch lange verfolgen.
Als
die meisten der Korsen aus politischen Gründen auf ihre Heimatinsel verlegt
werden, rückt Malik näher an Luciani heran, wird aber noch immer für
jeden Regelverstoß grausam bestraft. Trotzdem (oder deshalb?) gewinnt
Malik zunehmend an Autonomie, ihm gelingt gerade aufgrund seiner Unscheinbarkeit
eine Karriere: als Wanderer zwischen den Welten spricht er alle Sprachen der
Gefängnisinsassen (Französisch, Arabisch, Korsisch lernt er erst im
Gefängnis) und beginnt, auf eigene Rechnung zu arbeiten, sich andere Menschen
zu verpflichten und seine Gegner gegeneinander auszuspielen. Überhaupt
scheint das Gefängnis der Außenwelt osmotisch verbunden, bildet gewissermaßen
die materialistischen und ideologischen Bewegungsgesetze draußen wie unter
einem Brennglas ab. So, wie Morde von außen angeordnet werden, so werden
vom Gefängnis aus Geschäfte organisiert; Freigänge werden für
Racheakte und Neustrukturierungen des organisierten Verbrechens genutzt – korrupte
Wächter und Mobiltelefone stehen als dienstbare Werkzeuge zur Verfügung.
Im Gegensatz zu den Genre-Konventionen des klassischen Gefängnisfilms scheint
hier kein Gefangener mehr einen Gedanken an einen Ausbruch zu verschwenden;
das foucaultsche „Überwachen und Strafen“ scheint einer entschiedenen Inversion
unterzogen.
Dabei
ist „Ein Prophet“ nur oberflächlich ein sozialrealistischer Film; immer
wieder werden Figurenperspektiven aufgebrochen und bestimmte Ereignisse symbolisch
überhöht, wenn etwa Malik im Moment äußerster Gefährdung
durch eine instinktive Prophezeiung sein Fell rettet und gestärkt aus der
Situation hervorgeht. Audiards meisterhafte Studie ist in ihrer losen Folge
von Episoden tatsächlich so etwas wie ein Erziehungsroman der anderen Art.
Malik verfügt über die nötige Intelligenz, um sich schließlich
von Luciani zu emanzipieren und auf weit weniger altmodische Weise als dieser
„Macht“ zu akkumulieren und auch zu repräsentieren. Man wird Zeuge einer
umfassenden Modernisierung in der Larve einer fast schon mythologisch überformten
Biografie – im Vergleich zu den patriarchalen Strukturen des altmodischen und
rassistischen korsischen Gangstertums ist Malik intellektuell und ideologisch
deutlich wendiger, vor allem weniger auffällig. All dies gelingt Audiard
in der Nachfolge des Genre-Meisters Jean-Pierre Melville ohne viele Worte oder
Erklärungen, allein durch die physische Präsenz seiner Darsteller
innerhalb einer prägnant inszenierten Topografie. Die Veränderungen,
um die es geht, zeigen sich in kleinen Gesten, in der Körpersprache und
darin, wer mit wem beim Hofgang eine Zigarette raucht. Am Ende wird Malik, der
zu Beginn noch allein war, von einer wahren Eskorte am Gefängnistor empfangen.
Die „éducation sentimentale“ ist abgeschlossen, ein Gangster neuen Typs
ist geboren!
Ulrich
Kriest
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Ein
Prophet
UN
PROPHÈTE
Frankreich/Italien,
2009
Produktion :
Why Not Prod./Page 114/France 2 Cinéma/UGC/BIM Distribuzione
Produzent :
Martine Cassinelli , Lauranne Bourrachot , Marco Cherqui
Regie :
Jacques Audiard
Buch :
Thomas Bidegain , Jacques Audiard
Kamera :
Stéphane Fontaine
Musik
Alexandre Desplat
Schnitt:
Juliette Welfling
Darsteller:
Tahar Rahim (Malik), Niels Arestrup (César Luciani), Adel Bencherif (Ryad),
Reda Kateb (Jordi), Hichem Yacoubi (Reyeb), Jean-Philippe Ricci (Vettori), Gilles
Cohen (Prof), Antoine Basler (Pilicci), Leila Bekhti (Djamila), Pierre Leccia
(Sampiero), Foued Nassah (Antaro), Jean-Emmanuel Pagni (Santi)
Länge:
150 Minuten
Verleih:
Sony/filmcoopi (Schweiz)
Start (D): 11.03.2010
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