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Ein
zum Tode Verurteilter ist enflohen
Gedreht
in Fort Montluc bei Lyon, einem Gefängnis der deutschen Besatzung für
französische Häftlinge. Robert Bresson stützte sich auf den Bericht
Andre Devignys, im gleichen Jahr wie der Film als Buch publiziert. Devigny,
der in der Résistance mitarbeitete, war 1943 in Fort Montluc inhaftiert;
wenige Stunden vor seiner geplanten Hinrichtung gelang ihm die Flucht. Er assistierte
Bresson bei den Dreharbeiten und half ihm bei der authentischen Rekonstruktion
seiner Zelle, seiner Werkzeuge und Ausbruchsgeräte, wovon sogar noch einige
in Fort Montluc erhalten geblieben waren. Die Dialoge, die in diesem Film erstmals
von Bresson stammen, kommentierte er mit dem Satz: »Wie wahr!« Trotz
seiner Bemühung um Authentizität des Details, obwohl auch sein Leutnant
Fontaine, der Gefangene, im Film in der Résistance tätig war, ist
UN CONDAMNÉ À MORT S’EST ÉCHAPPÉ OU LE VENT SOUFFLE
OU IL VEUT kein Film über die Résistance; ebensowenig ein Film über
den Faschismus oder gar ein Suspensefilm über den Ausbruch eines zum Tode
Verurteilten. Obwohl alle diese Elemente vertreten sind, obwohl der Film trotz
des Titels, der den Ausgang antizipiert, »Spannung« enthält,
geht es um etwas anderes. Was ist zu sehen?
Erstes
Bild: Fort Montluc, genaue Auskunft über den Ort. Nach dem Titel eine Hand,
die sich auf den Türgriff eines fahrenden Autos legt. Fontaine (François
Leterrier), bewacht von zwei Beamten, versucht zu fliehen. Die ausdruckslosen
Gesichter seiner Begleiter, die Spannung auf seinem Gesicht: welche Entscheidung,
wann? Die Details der Bilder geben kein Ganzes. Keinen zusammenhängenden
Plan, keine Gewißheit. Das Auto hält, Fontaine springt heraus, läuft,
verschwindet hinter einer Straßenbahn. Die Bewacher bleiben sitzen, aus
einem nachfolgenden Auto Schüsse; wenig später wird Fontaine gebracht,
wir wußten es schon: die Kamera, bleibt, wie die Bewacher, im Auto, nur
um ein weniges in die Richtung von Fontaines Flucht gedreht. Die Entscheidung
ist gefallen, objektiv gesetzt in der Präsenz der Macht, der Waffen, der
Gewalt der Männer. Sprachlos registriert die Kamera die Gewalt, indem sie
Fontaine nicht folgt. Weder werden wir Zeuge eines Gemetzels (was sich, wir
wissen es, ereignet), das anklagend vorgezeigt wird, noch vereinigt sich die
Kamera mit der Perspektive Fontaines. Sie hält uns keine Absichten, Motive,
Erklärungen vor, weil sie sich von selbst verstehen. Dagegen besteht Bresson
in seinen Bildsplittern, die beim Rezipienten die Arbeit der Zusammensetzung,
der Entscheidung verlangen, auf der Objektivität, die über die Absichten
Fontaines, seiner Begleiter hinausgeht, auf dem Sein. Realisiert wird, was Brecht
vom epischen Theater verlangte, es treibt den Vorgang zu Erkenntnissen, es erzwingt
Entscheidungen, in ihm bestimmt das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein.
Diese Perspektive produziert in diesem und den folgenden Filmen Bressons etwas
Neuartiges: nicht Psychologie, sondern Untersuchung von Handlungen, von Möglichkeiten
innerhalb bestimmter Situationen, von Menschen. Die Möglichkeit erweist
sich als ein Element der Objektivität: es gelingt Fontaine zu fliehen.
Der
Film zeigt seine Befreiungsarbeit. Nach seinem mißglückten Fluchtversuch
auf offener Straße wird er nach Montluc gebracht. Er wird zusammengeschlagen.
Wir sehen nur einen der Begleiter eine Schaufel aufnehmen, bevor er mit Fontaine
in einem Raum verschwindet. Das nächste Bild zeigt den gefolterten Fontaine,
wie er auf einer Bahre in seine Zelle geschafft wird. Der Film muß notwendige
Bilder, nicht bloß schöne produzieren, sagt Bresson. Daher verzichten
seine Filme auf die Reproduktion des Evidenten: was zwischen dem Aufnehmen der
Schaufel und dem Wegtragen auf der Bahre geschieht, ist klar. Der Film muß
nicht die Gewalt und Herrschaft reproduzieren, sondern Auswege suchen, Unbekanntes
erforschen. Keine Nah- oder Großaufnahme vom Gesicht eines Soldaten, sondern
immer nur die Soldaten und Wächter in ihren Funktionen als Elemente der
Situation, gegen die sich die Anstrengung Fontaines richten.
Fontaines
Leben im Gefängnis besteht aus den täglich wiederkehrenden Zwängen
des Hofgangs, des Eimerleerens, der Essensausgabe; in seinen Versuchen, mit
anderen in Kontakt zu kommen; in der Arbeit an den Mitteln seiner Flucht. Von
einem Mitgefangenen erhält er eine Nadel, mit der er sich die Handschellen
öffnen kann. Nach der Verlegung in eine andere Zelle beginnt er die Türfüllung
zu lösen mit Hilfe eines Löffels, den er bei der Essensausgabe zurückbehalten
hat. Aus den Materialien, die ihm seine Zelle bietet, formt er Seile und Haken.
Sein Zellennachbar, schon resigniert, spricht mit ihm erst, als er dem Gestürzten,
beim Hofgang, aufhilft; er ist beeindruckt von Fontaines Mut und Ausdauer. Orsini
(Jacques Ertaud), von seiner Frau denunziert, versucht beim Hofgang zu entfliehen;
die Flucht mißlingt. Er wird in seine Zelle zurückgebracht; Fontaine
erfährt von ihm, daß zur Überwindung der Außenmauer ein
dritter Haken notwendig ist. Fontaines Zellennachbar, Blanchet (Maurice Beerblock),
kommentiert: »Orsini mußte scheitern, damit Du das Ziel erreichst.«
Alles ist miteinander verknüpft. Ein Wärter, der sich an der Ventilation
zu schaffen macht, weist Fontaine absichtslos auf den Luftschacht als Fluchtmöglichkeit
hin. Den Löffel, den dieser bei der Arbeit zerbricht, ersetzt er durch
einen zufällig beim Waschen gefundenen. Die täglich sich wiederholenden
Handlungen und Rituale werden zu Orten von Entdeckungen und Überraschungen;
in den Sprüngen, die sich auftun, finden sich die Mittel, die das Weitermachen
ermöglichen. Umgekehrt enthüllt sich in der täglichen Arbeit
Fontaines an der Flucht die Anstrengung, die Wiederholung von Gesten, eben die
Arbeit. Bresson sprach in einem Interview davon, daß er zeigen wollte,
wie eine unsichtbare Hand über dem Gefängnis liegt, die bestimmt,
was geschieht. Das bedeutet keinen Mystizismus, sondern: das Unerwartbare, der
Zufall ist objektiv. Fontaines Stärke besteht im Beharren auf seiner Hoffnung,
auf seinem Plan, aber verbunden mit einer genauen Beobachtung seiner Umwelt
und einer entsprechenden Veränderung seiner Strategie. Er vermag das Unerwartete
zu sehen und aufzunehmen, ohne sich doch aufzugeben. Er arbeitet wie Bressons
Kamera: finden, ohne zu suchen. Fontaine wird ins Hotel Terminus geführt,
wo ihm sein Todesurteil mitgeteilt wird. Er muß sich also entscheiden.
François Jost (Charles le Clainche), ein französischer Junge, der
den Deutschen gedient hat, aber dann betrunken einen Polizisten getötet
hat, wird zu ihm in die Zelle gelegt. Kann er ihm vertrauen? Muß er ihn
töten? Sie fliehen zusammen. Fontaine tötet eine Wache. Die nächste
Mauer können sie nur überwinden, indem Jost auf ihn steigt. Fontaine
stellt fest: »Es war nötig, daß Du kamst.« Sie verschwinden
im Dampf eines vorbeifahrenden Zuges auf einer Brücke.
In
UN CONDAMNÉ ... realisierte Bresson zum erstenmal seine Konzentration
auf Realität »ohne Ausschmückungen«, wie es im Vorspann
heißt, verbunden mit einem vollständigen Verzicht auf alle traditionellen
Konzeptionen des Bildes, des Raumes, der Zeit, der Verbindung zwischen Bild
und Ton. Im JOURNAL (Tagebuch
eines Landpfarrers)
hatte er noch die objektive, abbildende Einstellung der Bilder beibehalten,
in denen die Dinge und Menschen gewissermaßen noch realistisch plaziert
sind. In UN CONDAMNÉ À MORT S’EST ÉCHAPPÉ löst
sich diese Totalität, die mit dem gängigen Begriff von Realismus verbunden
ist, in einzelne, kurze, Details erfassende Einstellungen auf, Totalen werden
dabei ausgeschlossen. Der Film umfaßt etwa 600 Einstellungen in raschem
Wechsel. Aber nicht nur die Einheit der Bilder ist aufgegeben, sondern die der
Szenen oder Sequenzen selbst. Er ist nicht mehr Abfolge von Sequenzen, logischer
Verlauf der Zeit, sondern Verknüpfung von Einstellungen, die ihren gemeinsamen
Grund im Inhalt, im Interesse des untersuchenden Subjekts, also in der Auseinandersetzung
der Phantasie mit der Realität haben. So wie Fontaine die Welt seines Gefängnisses,
die Dinge, die Rituale, die Menschen in der Perspektive seines Interesses an
der Flucht betrachtet, so untersucht die Kamera seine Befreiungsarbeit. Deren
Details, die Aktionen und Reaktionen Fontaines motivieren die Folge der Bilder.
Die Untersuchung durchdringt die scheinbar unauflösliche, objektive Realität.
Wenn Blanchet im Hof hinfällt und Fontaine ihn aufhebt, vermerkt sein Kommentar,
der den ganzen Film durchzieht: »Er warf mir einen bestürzten Blick
zu . . .« Das nächste Bild zeigt Fontaine bereits wieder in seiner
Zelle, in einem Gespräch mit Blanchet, von dem wir nur noch das Ende hören.
Nicht der objektive Verlauf, sondern die Verbindung der Geste Fontaines im Hof
mit dem ersten Gespräch der Zellennachbarn, dem ersten Schritt Blanchets
aus seiner bitteren Resignation ist wichtig. Was für den Zeitverlauf gilt,
gilt auch für die Wahrnehmung des Raumes. Er wird in die Teile aufgespalten,
auf die sich gerade das Interesse Fontaines richtet. Häufig fällt
der Blick durch halbgeöffnete Türen, durch Löcher in der Türfüllung.
Sogar das Geschehen wird daraufhin betrachtet, was es in Fontaine auslöst.
Bei der Ankunft Josts sehen wir diesen nicht durch die Zellentür treten,
sondern die Spannung, Unsicherheit, Erwartung Fontaines. Die Dramatik ist keine
der Ereignisse, der Rhythmus keiner des Geschehens. Die Dramatik kommt aus dem
Zusammenhang, den die Bilder in der Vorstellung annehmen, der Rhythmus aus der
Verknüpfung, der Wiederkehr der Bilder. Etwa durch den wiederkehrenden
Hofgang, begleitet vom Kyrie der c-moll Messe Mozarts, welche die Empfindung
des Leidens in einer stilisierten Objektivität festhält. Etwa in den
Geräuschen des Wärters, der Maschinengewehre, am Schluß im Rattern
des mehrfach vorbeifahrenden Zuges. Die Trennung des Tones vom Bild ermöglicht
diese bewußte Komposition des Rhythmus.
Brecht hat dem traditionellen Theater Unvernünftigkeit vorgeworfen.
Er empfahl dagegen die radikale Trennung der Elemente. Dieser Forderung hat
Bresson in UN CONDAMNÉ ... zum erstenmal entsprochen.
Nur der Kommentar Fontaines stellt noch eine gewisse Einheit zwischen realem
Geschehen und dem Film selbst her. Aber über Brechts Forderung hinaus entsteht
nicht nur eine genauere Kenntnis der Realität, ein Wissen, eine Vermittlung
von Intentionen, sondern auf der Suche Fontaines werden die Gefühle der
Situationen mitproduziert, wie Angst, Hoffnung, Einsamkeit, Trauer. Bressons
Überwindung des traditionellen photographischen Realismus besteht in der
genauen, authentischen Reproduktion der Realität bis in die Form hinein
und ihrer Konfrontation mit den Wünschen, den Hoffnungen des Subjekts.
Gegenüber der einsamen Qual des Landpfarrers ist UN CONDAMNÉ ... die
Fröhliche Wissenschaft. Ursprünglich sollte der Film heißen:
»Aidetoi«, Hilf Dir selbst!
Stefan
Schädler
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Robert Bresson; Band 15 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1978, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.
Ein
zum Tode Verurteilter ist entflohen
UN
CONDAMNÉ À MORT S’EST ÉCHAPPÉ OU LE VENT SOUFFLE
OU IL VEUT
Frankreich
1956 – Regie und Drehbuch: Robert Bresson, nach dem Bericht des Majors André
Devigny. - Kamera: Léonce-Henry Burel. - Schnitt: Raymond Lamy. - Musik:
aus der c-Moll-Messe (KV 427) von Wolfgang Amadeus Mozart. - Ton: Pierre-André
Bertrand. - Szenenbild: Pierre Charbonnier. - Regieassistenz: Michel Clement.
Darsteller:
François Leterrier (Fontaine), Charles Le Clainche (Jost), Roland Monod
(Pfarrer), Jack Ertaud (Orsini), Roger Tréherne (Terry), Maurice Beerblock
(Blanchet), Jean-Philippe Delamare (Gefangener 110), Jean-Paul Delhumeau (Hébrard),
Roger Planchon (Wächter auf dem Fahrrad), Jacques Oerlemans (Oberaufseher),
Klaus Detlef Grevenhorst (deutscher Offizier), Leonhard Schmidt (deutscher Aufseher),
César Gattegno, Max Schoendorff, André Collombet. - Produktionsfirma:
Société Nouvelle des Établissements Gaumont/Nouvelles Éditions
de Films. - Produzent: Alain Poiré, Jean Thuillier. - Produktionsleitung:
Robert Sussfeld. - Gedreht vom 15. 5.
bis 2. 8.1956 im Gefängnis Montluc bei Lyon und im Studio Joinville. -
Format: 35 mm, schwarzweiß. - Originallänge: 2763 m = 100 min. 59
sec. – Deutsche Länge: 2747 m = 100 min. 24 sec. - Uraufführung: 10.11.1956,
Paris. – Deutsche Erstaufführung: 20.9.1961. - TV: 2.11.1964 (ZDF), 21.11.1973
(BR III), 22. 6.1974 (WDR III), 4.12.1974 (HR III). - Verleih: atlas film +
av (16 mm, auch Originalfass.).
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