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Die
Eleganz der Madame Michel
Noch
eine Tasse grünen Tee
Buch
oder Friseurbesuch? „Die Eleganz der Madame Michel“ feiert die Kunst der Distinktion
Paloma
ist gerade elf Jahre alt und schon fast am Ende ihres Lebens. Denn das hochbegabte
Mädchen mit dem blonden Struwwelschopf (fabelhaft: Garance Le Guillermic)
ist zu klug, um die oberflächliche Parallelwelt ihrer bourgeoisen Pariser
Familie nicht zu durchschauen. Ganz unsentimental und sehr konsequent will sie
sich an ihrem zwölften Geburtstag das Leben nehmen. Bis dahin vertreibt
sie sich die Zeit damit, mit einer alten Filmkamera und altklugen Kommentaren
den Alltag zu dokumentieren und in einem Countdown-Kalender an der Wand des
schönen bunten Kinderzimmers Kästchen um Kästchen auszumalen.
In
dem Wohnhaus in einem Pariser Reiche-Leute-Arrondissement gibt es noch eine
andere Außenseiterin. Es ist Madame Michel (gediegen: Josiane Balasko),
die das Geschehen im zeitlosen Concierge-Stil mit Kittelschürze und hochgesteckter
Unfrisur begleitet. Doch Madame hat ein Geheimnis. Denn so, wie sich hinter
der berufstypisch angeranzten Pförtnerloge ein zweiter Raum in ein gemütliches
bibliophiles Kabinett öffnet, so tarnt sich hinter Renée Michels
sorgfältig gepflegter mürrischer Fassade ein feinsinniges Interesse
an Literatur und höherer Lebenskultur, das sich ganz trendgerecht in einem
Faible für dunkle Schokolade und asiaphile Genüsse äußert.
Eigentlich
könnte Madame friedlich so vor sich hin leben. Doch die Regeln der Kinokonventionalität
dulden solch äußere Vernachlässigung nur als Anlass, um ästhetisch-erotische
Zivilisierungsprojekte zu starten. Und so bringt der Eintritt eines neuen männlichen
Mitbewohners Bewegung in den häuslichen Mikrokosmos. Es ist Herr Kakuro
Ozu (exotisch: Togo Igawa), ein materiell wie spirituell hochbemittelter Japaner,
der eine freigewordene Wohnung im Haus zum Feng-Shui-Nirwana umgestaltet und
in der Concierge bei der ersten Begrüßung die Geistesfreundin erkennt.
Paloma geht bei ihm bald ein und aus. Auch Madame gibt den ausgesucht höflichen
Annäherungsversuchen nach nur leichtem Zaudern nach. Friseurbesuch und
Neueinkleidung werden bald unausweichlich. Der Rest ist tausendfach bekannt.
Wie
schon „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ beruht auch „Die Eleganz der
Madame Michel“ auf einer höchst erfolgreichen Romanvorlage, wobei die fortschreitende
Verunstaltung von Muriel Barberys originalem Titel „L'Hérisson“ erst
in „Die Eleganz des Igels“ (deutsche Romanübersetzung) und dann in das
noch unsinnigere „Die Eleganz der Madame Michel“ dem Wunsch nach Wiedererkennbarkeit
durch das erhoffte frankophile Zielpublikum geschuldet sein dürfte. Andererseits
wurden beim Umbau für den Film durch Drehbuchautorin und Regisseurin Mona
Achache auch die komplette familiär-lebensgeschichtliche Motivation für
Renée Michels Einigelungsstrategie aus dem Plot gestrichen, so dass der
Hintergrund ihrer Geheimnistuerei bis zum Schluss ungeklärt bleibt.
Überschminkt
wird diese Lücke durch das offensive Ausstellen von Madame Michels mangelhafter
Weiblichkeit und jeder Menge zauberhaft arrangierter Lifestyle-Momente. „Die
Eleganz der Madame Michel“ ist ein Film, der in erster Linie das Distinktionsbegehren
derer bedient, die sich durch ihre Präferenz für Katzen, gute Literatur
und grünen Tee dem Hasso-Gassi-Rest der Menschheit überlegen fühlen.
So werden in dem durch großartige Darstellerleistungen und liebevolle
Ausstattung punktenden Debütfilm auch die reichlich vorhandenen kulturellen
Referenzen zum bloßen Dekor reduziert. Das gipfelt in einem gemeinsamem
Heimkinoabend mit einem Film des wohl nicht nur zufällig mit dem Helden
namensverwandten japanischen Klassikers Yasujiro Ozu – und doch ist damit nur
den Abgrund angezeigt zwischen prächtig arrangiertem Kino und einem, das
wirklich berührt und seinen Figuren ein Eigenleben jenseits der Drehbuchfinten
gestattet. Ozu käme nie auf die Idee, sich am Ende mit einem billigen Damenopfer
aus der Affäre zu stehlen.
Silvia
Hallensleben
Dieser
Text ist zuerst erschienen im: Tagesspiegel
Die
Eleganz der Madame Michel
Frankreich
/ Italien 2009 - Originaltitel: Le hérisson - Regie: Mona Achache - Darsteller:
Josiane Balasko, Garancelle Le Guillermic, Togo Igawa, Anne Brochet, Ariane
Ascaride, Wladimir Yordanoff, Sarah Le Picard - FSK: ab 12 - Länge: 99
min. - Start: 6.5.2010
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