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Elf
Uhr Nachts
"Elf Uhr Nachts" - 110 Minuten
Film von Jean-Luc Godard. Und was für ein Film. Grob basiert "Elf
Uhr Nachts" auf einem Kriminalroman von Lionel White. Doch man darf hier
keine geradlinige Romanadaption erwarten. Vielmehr improvisierten Godard und
Hauptdarsteller Jean-Paul Belmondo den Film größtenteils. So wird
aus einem Thriller ein vertracktes Surrealexperiment.
Eine Inhaltsangabe muss daher oberflächlich
erfolgen: Es geht um den Möchtegernschriftsteller Ferdinand Griffon (Belmondo)
der aus seinem gesellschaftlichen Leben entflieht, um mit seiner Ex-Geliebten
Marianne (Anna Karina) an die mediterrane See zu entfliehen. Weit weg von seiner
Familie lebt er in den Tag hinein, liest Bücher und arbeitet an einem Tagebuch.
Marianna hingegen wird wegen Mordes gesucht. Polizei und algerische Killer scheinen
das Pärchen zu verfolgen.
Das wär's. Doch Godard montiert philosophische
Texte mit Aufnahmen von Plakaten und Leinwänden, setzt Musicalelemente
ein, und versucht alles mögliche, um seinen Film auf eine inspirierende
Weise zu kodieren. Mal sind seine Bilder wunderschön - Belmondo und Karina
laufen an einem silhouette-artigen Waldabschnitt entlang, der vor einem flachen,
weißen Hintergrund gegenfotographiert wird -, mal abstoßend böse
- Belmondo findet einen durch eine Schere ermordeten Algerier und bohrt noch
in der blutigen Wunde herum -, mal aufwühlend-künstlerisch - Karina
hält die oben erwähnte Schere in ein Weitwinkelobjektiv, wodurch sich
ein unglaublich stimmiger Verzerrungseffekkt ergibt.
Dass es sich hier inhaltlich höchstwahrscheinlich
um das filmische Herumspielen mit der Dualität der Figuren (Pierrot und
Ferdinand oder Ferdinand oder Marianne), beziehungsweise Schizophrenie handelt,
ist kaum von der Hand zu weisen. Belmondo spielt anscheinend einen Verrückten,
einen einst materialistisch veranlagten Ehemann, dessen Weltbild durch gegenteilige
Gefühle - dargestellt durch Karina - ins Wanken kommt. Vielleicht ist die
Rolle der Anna Karina die symbolische Erleuchtung in Ferdinands Wesen. Während
er nach Weisheit strebt, sogar in der Badewanne mit seiner kleinen Tochter berühmte
Maler diskutiert, immer wieder auf die Wichtigkeit der Kunst pocht, ist Marianna
eine interessenlose Lebefrau, der es eher darum geht zu sein als zu haben. Aber
anscheinend will der Film uns auch etwas über das Unverständnis innerhalb
der Menschheit sagen. Oder über blinde, emotionsgeleitete Liebe. Oder auch
nicht. Aber das ist eben Godard.
Samuel Fuller, der berühmte, einflussreiche
Regisseur, gibt in einem Cameoauftritt das Motto an. Der oft zitierte Satz ist
ebenso wahr wie auch hundertprozentig auf "Elf Uhr Nachts" anzuwenden.
"Film
is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In
one word: emotion." Selbstreflexiv ist "Elf Uhr Nachts" eher
ein Film über die Kunst und deren Verständnis durch uns und unsere
Liebe zu dieser als eine surreale Krimitortur. Pointiert, schwarzhumorig, bildgewaltig,
tragikomisch, poetisch und philosophierend. Pulsierend schön und verschmitzt
kodiert.
Björn Last
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Elf
Uhr Nachts
Originaltitel:
Pierrot le Fou. Frankreich/Italien, 1965.
Regie:
Jean-Luc Godard.
Drehbuch:
Jean-Luc Godard (nach einem Roman von Lionel White).
Produktion:
Georges de Beauregard.
Kamera:
Raoul Coutard.
Schnitt:
Francoise Collin.
Musik:
Antoine Duhamel, Boris Bassiak.
Darsteller:
Jean-Paul Belmondo (Ferdinand Griffon/Pierrot), Anna Karina (Marianne Renoir),
Graziella Galvani (Ferdinands Frau), Samuel Fuller (Amerikanischer Regisseur),
Jean-Pierre Léaud (Junger Mann im Kino), László Szabó
(Exilant), Dominique Zardi (Tankstellenwart). Farbe. 110 Min.
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