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Elf
Uhr Nachts
Ein
Mann erspäht sich im Innenrückspiegel seines Wagens - neugierig betrachtet
er darin sein Abbild. „Was guckst du in den Spiegel?“ - seine Geliebte auf dem
Beifahrersitz; sie ist es, die ihm diese Frage stellt. Um beide herum herrscht
Finsternis, weiter entfernt toben die Konflikte der Welt. Was er sieht, ist
„[...]das Bild eines Mannes, der mit 180 Sachen in den Abgrund rast.“ Sich im
selbigen Rückspiegel betrachtend, stellt die Geliebte fest: „Und ich sehe
das Bild einer Frau - einer Frau, die in einen Mann verliebt ist, der mit 180
Sachen in den Abgrund rast.“ Da gibt‘s ja wohl nur eins - es folgt der erste
leidenschaftliche Kino-Kuss dieser „dernier couple romantique“. Demgegenüber
stellt sich jedoch eine weitere Frage: Würde die Geliebte den Mann, der
mit 180 Sachen in den Abgrund rast, auch lieben, wenn er dies nicht täte?
Leidenschaft; sie ist wie Feuer, das verbrennend, wovon sie lebt. Gleiches lässt
sich auch von der Kunst sagen...
Als
Jean-Luc Godard, wohl radikalster Auteur der Nouvelle Vague, 1965 seinen neuesten
Film bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig präsentierte,
erstickten gellende Buhrufe jeglichen Beifall. Die Radikalität des Werkes
wurde nicht verkannt, sie wurde erst gar nicht erkannt: seine Selbstreferenzialität
wird zum Verhängnis. 12 Jahre später befindet sich dieser Film auf
Platz 6 einer, während der Verleihung des César stattfindenden,
Wahl der besten französischen Filme aller Zeiten und wird, wenn auch nicht
von jedem Kritiker, favorisierend aufgenommen, zumindest als eines von Godards
Schlüsselwerken anerkannt.
„Pierrot
le Fou“, Film großer Gegensätze: Zwischen Moderne und Klassik, Kunst
und Realität, Lethargie und Ungestüm, Poesie und Lärm, Leere
und Vollkommenheit, rot und blau, Komödie und Tragödie, Frau und Mann,
Mann und Frau, wie sie zu Lebzeiten niemals vereint, nur koexistent sein können.
Jean-Luc Godards Aussagen über die Konflikte im menschlichen Naturell werden
dabei von einer eindrucksvollen Grammatik der Filmsprache derart ungebändigt,
kraftvoll und unvorhersehbar vorgetragen, dass sie stets eine, das Publikum
in jenes Chaos aus Kontrasten mitreißende, Sogwirkung entfalten. Begleitet
von Raoul Coutards brillantklarer Cinematographie und der sublimen Musik Antoine
Duhamels, zeichnet Godard das Bild eines zum Scheitern verurteilten Paares,
welches mit stets wechselnden Fortbewegungsmitteln direkt dem Abgrund entgegensteuert,
immer geradeaus, niemals zurückblickend. Viele der Motive sind zwar aus
früheren Filmen Godards bekannt, jedoch ist der Abschluss seiner romantischen
Phase deutlich fatalistischer und persönlicher ausgefallen als all seine
bisherigen Werke. Godard nutzt das Konstrukt des Lionel White Krimis „Obsession“
und erzählt, nein... vielmehr malt, erdichtet und montiert, kurzum: er
gestaltet die Geschichte von Ferdinand Griffon (Jean Paul Belmondo), einem phlegmatischen
Autor, der seines bourgeoisen Lebens mehr als überdrüssig ist, sowie
seiner undurchsichtigen Geliebten, Marianne Renoir (Anna Karina), einer faszinierend
enigmatischen Lebefrau die Ferdinand aus der Letharghie befreit. Manifestiert
wird die Befreiung in der Gestalt des titelgebendem Pierrot; dem Alter Ego Ferdinands,
der sich alsbald in einem - von Marianne provoziertem - Strudel aus Liebe und
Gewalt wiederfindet; einer Gewalt, die auch oftmals die vierte Wand des Filmes
einreißt und sich dem Publikum mitteilt: in direkter Reflexion des Vietnamkriegsgeschehens
(leichtfüßig und Angst einflößend zugleich), der Foltermethoden
im Algerienkrieg, aber auch im, jeweils zwiefach vorgetragenem, Verrat der Protagonisten
an ihrem geliebten Gegenüber.
Mit
spielerischem Erfindungsreichtum definieren sowohl Jean-Luc Godard als auch
seine hervorragenden Darsteller Jean Paul Belmondo und Anna Karina die Kunst
und Philosophie des Kinos neu. Indem sie aus dem Vollen, den, wie Samuel Fuller
es definiert, „Emotionen“ des Kinos schöpfen, erschaffen sie, mit all ihren
Referenzen an das Gut unserer Kultur - der Kunst, statt eines Filmes das Leben
selbst: Nicht nur als etwas, wovon die Menschen erfüllt werden, sondern
als das, was zwischen ihnen liegt. Diese Bereiche werden dabei durchaus als
echte Lebensräume (auch als solche im Mise-en-scène oder der Montage)
dar- und gegenübergestellt. Ausgangspunkt der Flucht ist das urbane Paris,
Metropole bourgeoiser Mechanismen (die Cocktail Party bei Monsieur und Madame
Espresso), während eine abgeschottete Mittelmeerinsel schlussendlich den
Fluchtpunkt dieser Reise ans Ende der Nacht bildet. Explosivität und Stille
wechseln sich ab, und zwischen den Polen und ihrer Dissonanz befindet sich der
Zuschauer. Wenn Jean Paul Belmondo die Worte „Après tout, je suis idiot...“
ausruft, nur um sich kurz danach selbst in die Luft zu sprengen, wissen wir,
dass hier nicht nur 110 Minuten Film, sondern eine ganze (romantische) Schaffensperiode
endet, die einst mit den, vom selbigen Belmondo gesprochenen, Worten „Après
tout, je suis con“ begann. „Pierrot le Fou“ ist somit nicht nur ein Film über
die Dualität seiner Figuren, sondern auch über die Dualität seines
Schöpfers bzw. über dessen Verhältnis zu seinem Schaffen: allein
die radikale Zerstörung des Filmkorpus kann für den Auteur als Akt
der Endgültigkeit in Frage kommen (Ähnliches gilt auch für Luis
Buñuel, der den letzten Film seiner Karriere, „Cet obscur objet du désir“,
in den Flammen einer Explosion enden lässt) und ihn, sowie seine Titelfigur,
befreien: wenn Ferdinand/Pierrot sich das Gesicht mit Farbe streicht, dann im
Blau der „Liberté“ - die dichterische Sprache wächst aus den Ruinen.
Was bleibt ist das Motiv des Meeres und der Sonne; vollkommen, sich niemals
berührend, doch im Augenblick der Ewigkeit eins werdend. Ganz gemäß
der Leidenschaft eines wahren (und daher auch oftmals verstimmten) Romantikers:
entweder Werther sein oder nichts. Es ist auch der vielleicht erste (und letzte)
harmonische Berührungspunkt von literarischer Poesie im Einklang mit (Kino-)Bild
und Ton, den das sonst von Kontrast und Reibung lebende Werk enthält.
Filmen
wie aus dem Leben, leben wie im Film: wir sehen Godards Hand Sätze aus
Ferdinands Tagebuch schreiben... und auch streichen. Mit Hitchcocks Cameos hat
dies nichts mehr gemein, hier offenbart ein Auteur sein innerstes Chaos um es
zum tanzenden Stern werden zu lassen - Godards reale Ex-Ehefrau Anna Karina
und Marianne Renoir werden eins, Godards italienische Produzenten und Ferdinands
italienische Ehefrau ebenso. Ferdinands Roman wird nie fertiggestellt, denn
es gab ein Leben zu leben (ein Tagebuch zu schreiben/großes Kino zu filmen)
- eines wie in einem Krimi, so forderte es Marianne. Was Godard „wie in einem
Fiebertraum“ filmte, ist ein Rendezvous mit dem Tod; das heißt nichts
anderes, als das Feuer zu beschwören und seinem schönsten Antlitz
zu erliegen - aus Leidenschaft wird Kunst ...und umgekehrt.
Dominik
Zurowski
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Elf Uhr Nachts
Originaltitel: Pierrot le Fou. Frankreich/Italien, 1965.
Regie: Jean-Luc Godard.
Drehbuch: Jean-Luc Godard (nach einem Roman von Lionel
White).
Produktion: Georges de Beauregard.
Kamera: Raoul Coutard.
Schnitt: Francoise Collin.
Musik: Antoine Duhamel, Boris Bassiak.
Darsteller: Jean-Paul Belmondo (Ferdinand Griffon/Pierrot),
Anna Karina (Marianne Renoir), Graziella Galvani (Ferdinands Frau), Samuel Fuller
(Amerikanischer Regisseur), Jean-Pierre Léaud (Junger Mann im Kino),
László Szabó (Exilant), Dominique Zardi (Tankstellenwart).
Farbe. 110 Min.
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