zur startseite
zum archiv
zu den essays
Ende
August, Anfang September
Alte
Jugend
Olivier
Assayas‘ Film „Fin août, début septembre“
Gabriel
(Mathieu Amalric) und Jenny (Jeanne Balibar) haben sich getrennt. Aber bis sie
die gemeinsame, jetzt leerstehende Wohnung endlich verkaufen können, vergeht
fast ein Jahr, in dem sie sich immer wieder sehen. Manchmal sind sie zusammen,
als hätte es nie einen Einschnitt gegeben. Dann wiederum stoßen sie
sich zaghaft oder schroff voneinander ab – gereizt und mit leiser Wehmut, dem
Zufall der Situation gehorchend oder mit verhaltener Ironie. Wie bereits der
Titel von Olivier Assayas‘ neuem Film nahe legt, handelt „Fin août, début
septembre“ vom Bestimmten im Unbestimmten, von beinahe unmerklichen Übergängen
und aufgeschobenen Entscheidungen. Nur allmählich und scheinbar durch die
vergehende Zeit forciert, treten Veränderungen ein, die zu neuen Konstellationen
führen. Und wenn Jenny bei ihrem etappenweisen Umzug, der sie schließlich
zurück in ihr Elternhaus bringt, Gabriel daran erinnert, dass ihr Auszug
vormals zur gleichen Jahreszeit stattgefunden habe, wird spürbar, wie in
jedem Anfang ein Ende und in jedem Ende ein Neuanfang begründet liegt.
Olivier
Assayas, der bereits in seinen ersten Filmen „Desordre“ und „L’enfant
de l’hiver“
die Brüchigkeit von Beziehungen und die Unentschiedenheit von Gefühlen
in mehr oder weniger auseinanderfallenden Gruppen thematisiert hat, zeigt auch
diesmal diese Grunddispositionen als Symptome eines schwierigen Erwachsenwerdens.
Und immer noch schwanken seine Helden zwischen den Idealen eines ungebundenen,
freien Lebens, gesellschaftlichen Vorgaben und der Angst vor privaten und beruflichen
Festlegungen. Dabei wissen sie eher, was sie nicht wollen, und sie reagieren,
statt zu handeln. Ihre Reife vermittelt sich beunruhigenderweise durch die mit
ihren vagen Lebensentwürfen verbundenen Ernüchterungen und Frustrationen
– als wäre die Jugend nicht erwachsen, sondern gleich alt geworden. Jedoch
sind sie noch jung genug, um die Hoffnung auf ein anderes, eigenes Leben zu
bewahren.
Der
Film entwickelt sein Generationenportrait durch die Verschränkung der Geschichten
über Liebe, Arbeit, die Frage des Zusammenlebens und der Freundschaft.
Alles hängt zusammen, erhellt sich gegenseitig und ist doch nur in Nuancen
und unmerklichen Andeutungen wahrnehmbar. So schwankt etwa die Freundschaft
von Gabriel, der zunächst als freier Journalist und später als Redakteur
in einem Verlag arbeitet, und Adrien (François Cluzet), der als Schriftsteller
nicht von seinen Büchern, sondern von Übersetzungen lebt, zwischen
Anteilnahme, bewundernder Anerkennung und Rivalität. Dabei werden jedoch
die individuell abgesteckten Grenzen der Intimität nicht überschritten:
Adrien vermeidet die Auskunft über seine schwere Krankheit und spricht
auch nicht über seine Liebesbeziehung zu der Schülerin Véra
(Mia Hansen-Løve). Gabriel wiederum klammert in den Gesprächen mit
seinem Freund sein Liebesleben weitgehend aus. Denn nach der Trennung von Jenny
ist er mit der in ihren Leidenschaften unausgeglichenen, gleichermaßen
von Freiheitsdrang und Unterwerfungsphantasien getriebenen Anne (Virginie Ledoyen)
zusammen. Und seine Angst vor einer neuen Bindung wechselt sich ab mit dem Glück
einer neuen Liebe.
Olivier
Assayas hat seinen Film in einzelne Kapitel gegliedert, die durch Zwischentitel
voneinander abgesetzt und durch sequentielle Handlungseinheiten unterteilt sind.
Diese, meist in einer Einstellung und mit der Direktheit einer beweglichen Handkamera
aufgenommen, enden mehr oder weniger abrupt in Abblenden. So entstehen Zäsuren,
in denen der Film ruht und sich zugleich verdichtet, in denen er Atem schöpft
und zugleich pointiert. Im Nachhall des Erzählten wird das Unmerkliche
bedeutend. Die Fragmente werden zum Konstruktionsprinzip einer offenen Dramaturgie,
die auf herkömmliche Erzählmuster verzichtet und stattdessen die Handlung
über die Dialoge der Figuren und ihren Beziehungen zueinander vermittelt.
Dabei ist die Kamera meist in der Rolle des Zuschauers: Sie vollzieht nach.
Verstehen wird bei Assayas so zu einer Frage von Nähe und Anteilnahme.
Der
Gewährsmann für diese Art des Erzählens ist im Film der Schriftsteller
Adrien Willer, dessen Bücher offensichtlich nicht die vom Lesepublikum
erwarteten traditionellen Plot-Strukturen aufweisen. Gabriel verteidigt ihn
einmal gegenüber den kritischen Einwendungen eines Fernsehredakteurs: „Braucht
man wirklich Geschichten, um die Welt zu erzählen?“ Später erfahren
wir, dass Adrien unter den finanziellen Einschränkungen, die eine Folge
seiner bescheidenen Einkünfte sind, leidet. Der Preis für Modernität
und künstlerische Integrität ist offensichtlich die Erfolglosigkeit.
Wolfgang Nierlin (Februar 2000)
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Ende
August, Anfang September
TV-Titel:
Das Ende der Unschuld
Originaltitel :
Fin août, début septembre
Frankreich
1998, Regie: Olivier Assayas, Buch: Olivier Assayas, Kamera: Denis Lenoir, Musik:
Ali Farka Touré, Produzent: Georges Benayoun, Philippe Carcassonne. Mit:
François Cluzet, Mathieu Amalric, Virginie Ledoyen, Jeanne Balibar, Alex
Descas, Arsinée Kanjian, Mia Hansen-Løve, Eric Elmosino, Mia Hansen-Love,
Nathalie Richard, Arsinée Khanjian.
zur startseite
zum archiv
zu den essays