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Enemy
Grusel der filmischen Verdopplung
Denis Villeneuves Saramago-Verfilmung "Enemy" suspendiert seine Figuren in einer oneirischen Zwischenwelt.
Ich habe nichts von José Saramago gelesen. Von "Enemy",
einer Verfilmung seines Romans "O homem duplicado" ausgehend, lassen
sich intermediales reverse engineering - dennoch ein paar Vermutungen über Saramagos Stil
und Interesse anstellen. Eine Ahnung von magischem Realismus scheint mitzuspielen,
aber aller allegorischen Ansprüche entkleidet, die übers Private hinausreichen.
Zwar ist der Protagonist Adam (Jake Gyllenhaal) ein Collegeprofessor für
Geschichte, der Hegel und Marx bemüht, um seinen Studenten die Wiederholungsstruktur
politischer Gewalt näherzubringen. In "Enemy" verkommt der Geschichtsunterricht
aber rasch zum Metaphernreservoir für eine sehr persönlich gedachte
Doppelgängerfantasie.
In ihrer ursprünglichen, literarischen Gestalt stelle ich mir
Saramagos fantastische Existenzialismen eher anstrengend vor. Was der frankokanadische
Regisseur Denis Villeneuve, zuletzt mit dem sehr andersartigen Entführungsdrama
"Prisoners" in deutschen Kinos zu sehen, mit Saramagos Vorlage
anstellt, funktioniert aber hervorragend. Einmal weil das Kino für Doppelgänger
wie gemacht ist, zum anderen (und überraschenderweise) auch gerade darum,
weil Villeneuves Übertragungsversuch aus dem Schriftsprachlichen eine gewisse
Literarizität ins Medium von Bild und Bewegung hinüberrettet, die
sich zum Beispiel darin äußert, dass die Frage, ob wir es hier noch
mit einer Tragödie zu tun haben oder schon mit einer Farce, nicht so einfach
zu beantworten ist. Noch im mit generischen Reizen gut ausgestatteten Finale
hält Villeneuve seine Figuren (und mit ihnen sein Publikum) in einer Art
Zwischenwelt suspendiert. Klassische Kinotugenden wie Identifikation und Spannung
werden zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber der direkte Zugang zu ihnen
wird doch irgendwie erschwert bzw. von anderen "Lesarten" durchkreuzt.
So kann man sich nie ganz und immer nur momentan der Tonart sicher sein, in
der die Erzählung sich entfaltet - ein ungebundener, frei modulierender
Stil, zumindest in den besten Momenten.
Auf Anraten eines Arbeitskollegen leiht Adam einen Film aus der Videothek
aus. Darin kommt sehr am Rande (in der Statistenrolle eines Hotelpagen) der
Schauspieler Anthony vor, der genauso aussieht wie Adam. Adam spürt ihn
auf, ohne selbst so recht zu wissen weshalb. Die allmähliche Annäherung
der beiden Doppelgänger eskaliert in einer ersten Begegnung. Auch filmisch
erreicht "Enemy" hier seinen ersten Höhepunkt: Zuvor waren die
beiden immer nur getrennt von einander zu sehen; ihr Zusammentreffen in ein
und demselben Kader verläuft über eine verbindende Schwenkbewegung,
die den Grusel der filmischen Verdopplung zugleich mobilisiert und allegorisiert.
Spätestens beim Vergleich ihrer Hände, auch sie vollkommen identisch,
und einer Geburtsnarbe am Bauch wird klar, was die beige-entwirklichten Bilder
schon die längste Zeit insinuieren, nämlich dass der Plot beim besten
Willen nicht mehr realistisch zu rationalisieren oder motivieren ist, sondern
höchstens noch oneirisch. Tagträumen gleich bricht sich denn auch
immer wieder eine weitere - tiefere? vorgelagerte? - Erzählebene Bahn,
auf der Adam/Anthony an einem okkulten Spiel teilnimmt, dessen Mitspieler beziehungsweise
Spielsteine nackte Frauen und Spinnen sind, sowie beider halluzinatorische Verschränkung
zur Spinnenfrau - Hector Babenco lässt grüßen.
Daneben ist "Enemy" vor allem ein Architekturfilm. Gedreht in Toronto,
in schwebenden Kameraflügen entlang von unbelebten Hochhäusern in
einer Investorenvariante des International Style, arbeitet sich "Enemy"
ab an einem Stadtbild, das selbst oft als Double herhalten musste, nämlich
für New York, wo Drehgenehmigungen lange Zeit schwer zu bekommen waren.
Hier, entvölkert und entfärbt, erscheint die Skyline von Toronto unter
einem irgendwie ruinösen Aspekt, als hätten die Jahre der filmindustriellen
Dienstbarkeit der Stadt die Seele geraubt. Die unbehausten Häuser entwickeln
ein Eigenleben, lassen ihre Symbolfunktion schließlich hinter sich und
erhalten, was sich folgerichtig anfühlt, das letzte Wort beziehungsweise
die letzte, gespenstisch-schöne Einstellung.
Nikolaus Perneczky
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Enemy
Kanada, Spanien 2013 - 90 Minuten - Start: 22.05.2014 - Regie: Denis Villeneuve - Drehbuch: Javier Gullón, José Saramago - Produktion: Fraser Ash, Luc Déry, M.A. Faura, Niv Fichman, Sari Friedland, François Ivernel, Kevin Krikst, Cameron McCracken, Juan Romero, Mark Slone, Isaac Torrás - Kamera: Nicolas Bolduc - Schnitt: Matthew Hannam - Musik: Danny Bensi, Saunder Jurriaans - Darsteller: Jake Gyllenhaal, Mélanie Laurent, Sarah Gadon, Isabella Rossellini, Stephen R. Hart, Kiran Friesen, Jane Moffat, Loretta Yu, Joshua Peace, Tim Post, Laurie Murdoch, Darryl Dinn, Alexis Uiga -Verleih: capelight pictures
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