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Enter the Void
Irgendwie ist es schon witzig, dass sich so kurz nach
„Inception“ (fd 39 996) ein zweiter Film aufmacht, das Unterbewusstsein als potenziellen
Ort einer (Spiel-)Handlung zu erkunden. „Enter the Void“ von Gaspar Noé findet ähnlich faszinierende Bilder und
scheitert an vergleichbaren Aporien des Erzählens. Mit der Freiheit des
Schweifens und Flanierens ist es so eine Sache, wenn man Elemente des nicht-narrativen
Experimentalfilms für eine letztlich arg konventionelle Erzählung
nutzen will. So ist die Kamera auch hier immer zur Stelle, wenn ein entscheidendes
Bild sichtbar wird, ein entscheidender Satz fällt. Weil allerdings reichlich
Drogen und Agonie im Spiel sind, muss man sehr geduldig auf sehr wenig warten.
Doch, versuchsweise, der Reihe nach: Der Dealer und Junkie
Oscar ist in Tokio gelandet, so wie auch seine Schwester Linda. Oscars Lieblingsdroge
trägt den Namen DMT, deren Wirkung, so kann man lesen, sich mit Nahtoderfahrungen
vergleichen lässt. Man wird Zeuge des nicht sonderlich aufregenden Alltags
von Bruder und Schwester, die als Tänzerin arbeitet, während Oscar
seinen Geschäften nachgeht. Der erste Teil von „Enter the Void“ ist – wie einst die Chandler-Verfilmung „Farewell My Lovely“ (fd 19 875) – konsequent aus der Perspektive Oscars erzählt
– mit allen Überspanntheiten, die ein solches Verfahren mit sich bringt: Es braucht
den Blick in den Spiegel, um das Gesicht des Protagonisten zu sehen. Nach gut
einer halben Stunde wird Oscar bei einer Razzia im Club „The Void“ angeschossen
und stirbt in der Toilette. Jetzt löst sich die Kamera vom Körper
des Protagonisten und beginnt, „über den Dingen“ zu schweben, scheinbar
frei flottierend, doch das täuscht, denn jetzt beginnt der Film die Informationen
nachzutragen, die er im geheimnisvollen ersten Teil verweigert hatte. Während
Oscar in gewisser Weise nun seinen Blick schweifen lässt, mischen sich
Erinnerungsbilder in den Film, die von der Kindheit und Jugend der Geschwister
erzählen. Nach dem Tod der Eltern bei einem Verkehrsunfall versprachen
sich die traumatisierten Kinder Oscar und Linda, einander nie zu verlassen.
Offenbar wird man als Zuschauer Zeuge, wie Oscars Seele dieses Versprechen einzulösen
versucht, zwischen Abtreibung und Inzest. Zugleich beobachtet er, wie seine
Freunde und Bekannten auf die Nachricht von seinem Tod reagieren, muss aber
auch erleben, dass sich seine Schwester mit ihrem Chef eingelassen hat, was
sie ihm gegenüber stets bestritten hatte.
Weitaus radikaler als Christopher Nolan entfernt sich
Noé in diesem zweiten Teil von den Konventionen des Erzählkinos,
lässt seinen Film blubbern und stottern, fügt längere monochrome
Phasen ein, bevor es dann wieder bonbonfarben weitergeht. Doch so assoziativ
sich der Film hier auch geriert, setzen sich die Puzzleteilchen letztlich doch
zu einer vergleichsweise dichten Erzählung zusammen, die Meditationen des
Tibetanischen Totenbuches mit Küchenpsychologie mischt. In diesem zweiten
Teil eilt die Kamera dem Protagonisten hinterher, was bedeutet, dass man 60
Minuten lang die Welt hinter einem in der Mitte der Kadrage situierten
Kopf nebst zwei Segelohren erkunden muss. Das kann man konsequent nennen, ist
aber auch ziemlich nervtötend. Irgendwann ist der Kreis wieder geschlossen und man
sieht Oscar erneut auf dem Boden der Toilette liegen; jetzt wird die Kamera
allmählich autonom – und verguckt sich zugleich in die Geschehnisse in
einem Love Hotel, wodurch der Film den Hautgout des Gewagten bekommt. Das Ende
zieht sich etwas hin, aber man befindet sich auf der Zielgeraden von Werden
und Vergehen und Werden. Am Schluss dieses Trips, der deutlich an die rätselhafte
Schlusssequenz von Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“
(fd 15 732) angelehnt scheint, steht eine Geburt, die eine
Wiedergeburt sein könnte.
Dass Gaspar Noé es nicht lassen mag, auch die
vorangehende Zeugung explizit zu zeigen, spricht für den alten Provokateur,
der nach seinem formal wie inhaltlich radikalen „Irreversibel“ (fd 36 120) wohl erneut zeigen wollte, wie eine psychedelische Kinoerfahrung,
die nicht nur dekorativ ist, sondern auch die Redundanzen des Rausches nicht
ausspart, aufs Heftigste polarisieren kann. Ob man „Enter the Void“, der seinen Titel in jeder Hinsicht einlöst, für innovativ
oder überspannt hält, hängt nicht zuletzt stark vom individuellen
Zeitmanagement des Zuschauers ab.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Enter the
Void
Frankreich / Deutschland / Italien 2009 - Regie: Gaspar
Noé - Darsteller: Nathaniel Brown, Paz de la Huerta, Cyril Roy, Emily
Alyn Lind, Jesse Kuhn, Olly Alexander, Masato Tanno, Sara Stockbridge, Cary Hayes - FSK: keine Jugendfreigabe - Länge:
162 min. - Start: 26.8.2010
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