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Eraserhead
„Eraserhead"
- das ist die Welt, in die man gerät, wenn man schlaflos, schmerzgepeinigt,
3 Uhr Nachts, hohes Fieber, sich in das verschwitzte Kopfkissen krallt und phantasiert.
„Eraserhead", 35 mm, s/w. Mehr schwarz als weiß. Die erste längere
Arbeit des kalifornischen Avantgarde-Regisseurs David K. Lynch. Entstanden in
dreijähriger akribischer Arbeit, die alle Beteiligten bis an die Grenzen
ihrer Belastbarkeit strapazierte. „Als ob man jedes Bild einzeln dreht",
meinte der Hauptdarsteller. Resultat ist ein einzigartiger Film, der es auch
bleiben wird, so wie seit fünfzig Jahren „L'Age
d'Or".
Kulisse:
kleine, schlecht beleuchtete Zimmer, ärmlich und spärlich möbliert,
Treppenhäuser, ein Aufzug, ein Güterbahnhof bei Nacht, Atelier-Straßen,
das Innere eines Heizkörpers. Henry, ein junger Mann, wohnt in einem dieser
Zimmer. Sein Blick ist verstört, seine Bewegungen gehemmt. Er geht im Zimmer
auf und ab, schaltet das nackte Glühbirnen-Licht an, schaltet es wieder
aus. Er geht über die leeren Atelier-Straßen. Im Hintergrund ein
suggestiver Lärm: Gehämmer und Gestampfe von Güterzügen
und Maschinen. Die Geräusche hören nie auf.
Henry hat eine Freundin, die mit ihrer Familie in einem anderen kahlen Zimmer haust. Sie ist schwanger. Henry soll sie heiraten. Ihre Eltern laden ihn zum Essen ein. Es gibt Hähnchen. Sie lassen sich nicht tranchieren. Schließlich gelingt es doch die kleinen Leiber aufzuschlitzen, da fließt ein endloser Blutstrom aus den Öffnungen. Später wiederholt sich dieses Motiv: Henry und seine Freundin leben zusammen und liegen unter einer Decke. Henry zieht seiner schwangeren Frau endlose Würmer und Bänder aus dem Leib.
Dann
wird das Kind geboren. Es hat einen Vogelschädel und keine Gliedmaßen,
sein Leib ist in Mullbinden eingepackt. Es schreit ununterbrochen. Während
das Ding unversorgt auf der Kommode liegt - die Freundin ist inzwischen wieder
weggegangen - träumt Henry vom Inneren seines Radiators. Da ist eine kleine
Frau mit Backen, die wie angeklebte Kartoffeln aussehen und sie bewegt sich
zu einem psychodelischen Leierkastenlied auf einer kleinen Bühne mit Schachbrettmuster.
Von oben fallen kleine matschige Bällchen auf die Bühne, wie Kaulquappen,
ähnlich wie die Würmer, die Henry aus dem Bauch seiner Freundin herausgezogen
hat.
Die
Geräusche nehmen zu. Henry verliert die Nerven und reißt dem schreienden
Ding auf der Kommode den Verband ab, darunter liegen die pulsierenden Organe.
Mit einer Schere sticht Henry ein Organ auf. Hefeartige Masse ergießt
sich auf die Kommode. Endlos. Henry träumt wieder. Er steht auf einer Galerie
und sieht der Dame in der Heizung zu. Wieder fallen die Kaulquappen. Plötzlich
fällt sein Kopf, aus dem Kragen wächst der Kopf des gemordeten Kindes.
Schnitt. Außenwand eines Hauses. Henrys Kopf fällt aus dem Fenster,
ein Junge sammelt ihn auf und bringt ihn in eine Fabrik, wo er zu Radiergummis
(Eraser) verarbeitet wird.
Psychopathisch.
Hypnotisch. Beckett. Alptraum. Die Rezensenten-Assoziationen bringen es nicht.
Das Vokabular der Filmkritik ist nicht vorbereitet. "Sehgewohnheiten aufbrechen"
und dergleichen Klassifikationen für nicht Klassifizierbares sind fehl
am Platz.
In
New York, London und Paris gibt es schon einen "Eraserhead"-Kult.
Und wir haben es hier erst mit der Spitze eines neuen amerikanischen Underground-Kinos
zu tun, das ganz ohne Sturm und Drang, Formen zerdöppern, Selbstinszenierung
und überkandidelte Exzentrik auskommt. Wem mit einem Vergleich aus der
Musik gedient ist: The Pop Group, "Sister Ray" von Velvet Underground
oder "Helen of Troy" von John Cale, aber spröder.
Diedrich
Diederichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Sounds 9/1979
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Eraserhead, USA 1977, 89 Min., Schwarzweiss,
Deutscher Kinostart: 7.9.1979
Regie und Drehbuch: David Lynch,
Kamera: Frederick Elmes, Herbert Cardwell, Schnitt: David Lynch, Musik: Peter
Ivers (songs), David Lynch, Fats Waller, Künstlerische Leitung: David Lynch,
Soundeffekte: David Lynch, Alan Splet, Ton: Alan Splet, Produzent: David Lynch,
Darsteller: Jack Nance (Henry Spencer), Charlotte Stewart (Mary X ), Allen Joseph
(Mr. X), Jeanne Bates (Mrs. X), Judith Anna Roberts (Nachbarin), Laurel Near
( Frau in der Heizung), Jack Fisk (Mann im Planet), Jean Lange (Grossmutter),
Thomas Coulson (Junge)
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