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Die
Eroberung der inneren Freiheit
Ein
hoch interessantes Projekt: Seit dem Jahr 2000 existiert im Gefängnis Berlin-Tegel
für so genannte Schwerverbrecher die Möglichkeit, auf freiwilliger
Basis in Gruppen an „Sokratischen Gesprächen“ teilzunehmen. Dieses Angebot
sei weltweit einmalig, erfährt man im Verlauf des Films. Die Filmemacherinnen
Silvia Kaiser und Aleksandra Kumorek erhielten die Möglichkeit, bei einigen
dieser Gesprächen dabei zu sein und sie mit der Kamera zu dokumentieren.
Um
es kurz zu machen: Was von diesen Gesprächen im Film zu sehen ist, ist
schlicht sensationell. Da sitzen wegen Mordes, Raubüberfällen oder
Drogendelikten zu langjährigen Haftstrafen Verurteilte in einem Raum und
philosophieren nachdenklich, insistierend, aber auch voller Witz über innere
und äußere Freiheit, über Gut und Böse, Emotionen, den
Wert des Lebens, das Glück und die Moral. Wie wichtig ist der „Kick“ des
Verbrechens? Man wird ja nicht nur wegen des Geldes zum Drogenkurier, sondern
auch, weil es Spaß macht. Und: Wird man zu den Drogenbaronen vorgelassen,
dann ist das immer auch ein Beweis von Macht und Anerkennung. Hätte der
Philosoph, der die Gesprächsrunde moderiert, nicht auch viel dafür
gegeben, zum engeren Kreis des Sokrates vorzudringen? Na also! Man erlebt in
der philosophischen Praxis – es geht allein ums Gespräch, nicht um die
Exegese klassischer Texte – die Freude am Austausch und an der (Selbst-)Reflexion.
Dabei werden Bildungsunterschiede zwar deutlich, spielen aber selten eine Rolle.
Während der Kokain-Dealer mit wohl gewählten Worten davon schwärmt,
dass innere Freiheit an die Überwindung jeder Form von Moral geknüpft
sei, vertrauen andere Inhaftierte lieber auf den Dalai Lama, was allerdings
auch nicht unwidersprochen bleibt.
Dass
diese Gespräche vor dem Hintergrund des gewalttätigen Gefängnisalltags
stattfinden, steht im Presseheft, aber der Film zeigt diese Spannung gerade
nicht. Vielmehr – und hier liegt die zentrale Schwäche des Films – begnügen
sich die Filmemacherinnen nicht mit der Dokumentation der spannenden Gespräche,
sondern sie sammeln auch reichlich Bilder eines geradezu poetischen Knastalltags,
wo Türen aufgehen oder zugeschlossen werden und melancholische Blicke aus
vergitterten Fenstern vom Kommen und Gehen der Jahreszeiten künden, untermalt
von getragener Musik.
Diese
„Poetisierung“ des Knastalltags, die eher an individuelle Kontemplation hinter
Klostermauern denken lässt, stößt sich innerhalb des Films allerdings
an einigen durchaus zentralen Aussagen der Inhaftierten, die sehr wohl das soziale
Geflecht im Gefängnis und die Machthierarchien zwischen Gefangenen und
Wachpersonal reflektieren. Dafür aber sucht der Film keine Bilder. Da zudem
auch noch zwei, drei Inhaftierte die Möglichkeit zu privilegierten „Einzelgesprächen“
vor der Kamera bekommen, verliert der Film irgendwann dann seinen Faden. Wie
bedauerlich das letztlich ist, zeigen immer wieder die großartigen Ausschnitte
aus den Sitzungen der Gesprächsgruppe. Für etwas mehr dieses Materials
hätte man zur Not auch auf ein Dutzend Einstellungen mit „menschelnden“
Blicken aus vergitterten Fenstern aufs Schneegestöber draußen verzichtet.
Ulrich
Kriest
Dieser
Text ist zuerst erschienen im: film-Dienst
Die
Eroberung der inneren Freiheit
Deutschland
2009 - Regie: Silvia Kaiser, Aleksandra Kumorek – Mitwirkende: Gaston, Gordon,
Kai, Rainer, Sigmund, Silvio, Stefan, Thomas, Vasilie, Peter Brune, Horst Gronke
- FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 83 min. - Start: 27.5.2010
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