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Es
beginnt heute
Kinder
der Arbeitslosigkeit
Der Pausenhof einer Vorschule in Hernaing,
ein Ort nahe Valenciennnes im Norden Frankreichs: Auf dem mittlerweile menschenleeren
Gelände bricht eine Frau neben ihren Kindern zusammen. Als der Schuldirektor,
der die Szene beobachtet, ihr zu Hilfe kommen will, stürzt sie wankend
davon.
Madame Henry (Betty Teboulle) ist Alkoholikerin.
Sie lebt mit ihren beiden Kindern in einer heruntergekommenen, verwahrlosten
Wohnung, die dunkel ist und kalt, weil die Stromversorgung wegen ausbleibender
Zahlungen unterbrochen wurde. Das Geld, das ihr Mann als Aushilfsfahrer verdient,
reicht kaum zur Abzahlung der dringlichsten Schulden. Die Henrys sind arm; sie
leben im sozialen Abseits. Und sie sind in Hernaing nicht die einzigen in dieser
Lage.
Die Arbeitslosenquote der einstmals prosperierenden
Bergarbeiterstadt ist nach Stilllegung der Zechen auf über 30 Prozent gestiegen.
Daniel Lefebvre (Philippe Torreton), Leiter einer école maternelle, erlebt
die Folgen dieses Strukturwandels in seiner täglichen Arbeit mit den „Kindern
der Arbeitslosigkeit“: Diese sind schlecht ernährt, haben kommunikative
Defizite, weil ihre Eltern nicht mit ihnen sprechen, und leiden in besonders
gravierenden Fällen unter sexuellem Missbrauch und körperlicher Züchtigung.
Manchmal kommen sie zu spät oder gar nicht zur Schule, weil ihre Eltern
keinen Grund haben, morgens aufzustehen. Und manchmal haben diese Eltern kein
Geld für die Schulspeise ihrer Kinder. In einem Lied zu Beginn des Films
singen diese Kinder von Häusern aus Papier, in denen sich Treppen aus Pappe
befinden.
Daniel Lefebvre bündelt diese Probleme,
er ist die Schnittstelle all dieser Konflikte. Sein Geschäft ist die Vermittlung
zwischen Kindern, Eltern, Behörden und der Schulaufsicht. Und was er mit
seinen Schützlingen, aber auch ihren Angehörigen einübt, ist
Kommunikation, Solidarität und Zivilcourage. Dabei geht es nicht nur darum,
die eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen, sondern es gilt auch,
Veränderungen zu akzeptieren und produktiv zu gestalten. Die Beobachtung
einer älteren Pädagogin trägt dieser gesellschaftskritischen
Diagnose Rechnung: Zur Armut sei eine bisher nicht bekannte Passivität
getreten, eine Vernachlässigung der Kinder durch Eltern, die ihre Verantwortung
nicht mehr begreifen, weil sie auch für sich selbst keine mehr übernehmen
und in den Alkoholismus oder die Ersatzwirklichkeit des Fernsehens flüchten.
Bertrand Tavernier, der mit „Es beginnt
heute“ (Ça commence aujourd’hui) konsequent die in seinen letzten Filmen
vollzogene Hinwendung zur Erforschung der sozialen Wirklichkeit seines Landes
fortsetzt, hat den Fokus seines Interesses von der Peripherie der Großstädte
an den ländlich geprägten Rand Frankreichs verlegt. Wie sein Kollege
Bruno Dumont zeigt er die Gleichförmigkeit verlassen wirkender Arbeitersiedlungen:
lange, gerade Straßen, die von Backsteinhäusern gesäumt werden.
Und wie Dumont kontrastiert er diese Zivilisation mit den weiten, leicht hügeligen
Feldern und Äckern der Umgebung, die für Lefebvre bei seinen Fahrten
mit dem Auto zu poetischen Fluchträumen werden. Die Gedichte, die dabei
entstehen und die als voice-over zu hören sind, grundiert ein melancholischer
Pessimismus, der jedoch immer wieder aufgebrochen wird durch einen widerständigen
Aktivismus, der seine Kraft aus dem Konflikt mit der eigenen Herkunft zieht:
„Es ist in uns. Es ist die Scholle.“ Gerade die Reflexion der Identität
soll im Hinblick auf die diversen Autoritätskonflikte ein ausgleichendes
Handeln freisetzen.
Die poetischen Texte stammen von Dominique
Sampiero, dessen langjährige Erfahrungen als Lehrer dem Drehbuch maßgeblich
zugrunde liegen. Diese Wirklichkeitsnähe hat Tavernier unterstützt
durch die Wahl originaler Schauplätze und die Verpflichtung von Laienschauspielern.
Jedoch geht es ihm nicht um einen planen Naturalismus mit dokumentarischen Mitteln.
Vielmehr sucht auch er zur Vermeidung von Voyeurismus und Manipulation zusammen
mit seinem Kameramann Alain Choquart nach einem Ausgleich zwischen Nähe
und Distanz, um seinen Protest als Filmemacher zu artikulieren.
Wolfgang Nierlin
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: Rhein-Neckar-Zeitung vom 11.7.2000
Es
beginnt heute
(Ça
commence aujourd'hui)
Frankreich
1998
Dt.
Kinostart: 25.11.1999
Verleih:
Arsenal Filmverleih GmbH
Regie:
Bertrand Tavernier
Drehbuch:
Dominique Sampiero, Tiffany Tavernier, Bertrand Tavernier
Darsteller/innen:
Philippe Torreton, Maria Pitarresi, Nadia Kaci, Veronique Ataly, Nathalie Bécue
u.
a.
Produktion:
Les Films Alain Sarde, Little Bear, TFI Filmproduktion
Kamera:
Alain Choquart
Laufzeit:
117 min
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