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Das
Fenster zum Hof
Für Wilfried Reichart
Hitchcock-Filme, das sind Thriller, die
vom Leben erzählen, das künstlich extrem verdichtet ist, es sind filmische
Thriller, so temporeich rhythmisiert, daß kein Zuschauer den Faden verliert.
Hitchcock selber sagt: „Drama ... ist Leben, aus dem man die langweiligen Abschnitte
herausgeschnitten hat." Und: „Tempo ... das ist die Kunst, das Publikum
mit dem gerade Abgelaufenen zu beschäftigen."
Keine Geschichte ist bei Hitchcock auf
Realismus oder gar auf Naturalismus hin organisiert. Alles Geschehen ist den
Emotionen unterworfen, die der Zuschauer durchleben soll und die ihn ganz fest
bei der Stange halten. Der Filmtheoretiker Helmut Färber schrieb 1966 in
einem Essay für die „Filmkritik": "Hitchcocks Filme bezeugen
... die Einsicht, daß menschliche Schicksale im Kino zwar leicht gerührt,
aber nie betroffen machen. Im Kino kann man niemand für die Not von Mitmenschen
interessieren, im Kino wird man erschüttert nicht durch Menschen, die in
tragische Situationen geraten, sondern durch Filmstars, die in irritierende
Handlungen verwickelt werden. Das Bewundernswerte an Hitchcock ist die Konsequenz,
mit der er Hollywoods Unvermögen, das auch das seine ist, zu einer Tugend
zu machen verstanden hat. Um den Menschen im Kinogänger noch zu erreichen,
wenden Hitchcocks Filme sich an den Kinogänger im Menschen."
»Rear Window« erzählt
zwei, drei Tage aus dem Leben eines Mannes, James Stewart, der es über
alles liebt, an die spannendsten Schauplätze der Welt zu reisen, sich umzuschauen
und dieses Umschauen zu protokollieren: mit Fotografien. Frauen kann er dabei
nicht gebrauchen. Er kann sich nicht vorstellen, daß irgendjemand mit
Stöckelschuhen und Modellkleid durch den indonesischen Dschungel watet,
um interessante Fotos zu machen. Oder anders rum: Er kann sich nicht vorstellen,
daß Grace Kelly klobige Boots und schmutzige Jeans trägt, nur, um
in Indochina bei ihm zu sein. Damit hat er selbstverständlich recht. Und Grace Kelly weiß das auch. Also bietet
sie an, ihm ein Fotoatelier in New York einzurichten und für exklusive
Kundschaft zu sorgen. Für dieses Angebot hat Stewart aber noch nicht einmal
eine Ablehnung übrig.
Zeit zum Reden, Diskutieren und Flirten
hat Stewart in diesen Tagen, weil er bewegungslos in seinem Zimmer sitzt. Während
eines Autorennens wagte er für eine Fotografie zu viel. Dabei ging einiges
zu Bruch: das Rennauto, der Fotoapparat und Stewarts linkes Bein. Nur das Foto
gelang. Doch statt auf Reden, Diskutieren und Flirten hat Stewart - trotz seiner
Verletzung - Lust, sich umzuschauen. In die Welt kann er nicht reisen. Also
schaut er sich um in seinem eigenen Hinterhof. Unentwegt beobachtet er dort
seine Nachbarn. Er beobachtet, was sie erleben, was sie tun, er beobachtet sogar,
was sie empfinden. Einen „unverbesserlichen Spanner" nennt ihn Thelma Ritter,
seine Krankenpflegerin. Und zuvor, in einer anderen Szene, seufzte sie schon
bei seinem Anblick: „Wir sind doch ein Volk von Voyeuren geworden."
Der Film beschränkt seinen Raum auf
einen einzigen Schauplatz: den Hof hinter Stewarts Appartement. Und er beschränkt
(von einer Ausnahme abgesehen) seine Perspektive auf den Blick des Helden. Diese
Beschränkung, so Hitchcock selbst, „bot die Möglichkeit, einen vollkommenen
filmischen Film zu machen. Da war der unbewegliche Mann, der nach draußen
schaut. Das ist das erste Stück des Films. Das zweite Stück läßt
in Erscheinung treten, was der Mann sieht, und das dritte zeigt seine Reaktion.
Das stellt den reinsten Ausdruck filmischer Vorstellung dar, den wir kennen."
Im Hof hinter Stewarts Wohnung spielen
sich viele Geschichten ab. Und jede dieser Geschichten zeigt sich durch ein
anderes Fenster. Hitchcock: „Auf der anderen Seite des Hofes haben Sie alle
Arten menschlichen Verhaltens, einen kleinen Verhaltenskatalog ... Was man auf
der Hofmauer sieht, ist eine Fülle kleiner Geschichten, es ist der Spiegel
... einer kleinen Welt.“
Da ist ein Musiker der an einem Lied arbeitet.
Man sieht, wie er einmal unschlüssig ist und ein anderes Mal verzweifelt
und betrunken. Und dann sieht man, wie er lustig ist und sich Gäste einlädt.
Da ist ein kinderloses Ehepaar, das Nacht für Nacht auf dem Balkon schläft.
Seine ganze Liebe wendet es seinem kleinen Hündchen zu.
Und da ist eine alleinstehende Tänzerin,
hinter der die Männer her sind. Unentwegt tanzt sie durch ihre Wohnung.
So macht sie aus ihrem Alltagsleben ein endloses Ballett. Man sieht, wie sie
einmal einem Mann gestattet, sie zu berühren, und wie sie ein anderes Mal
ihre Tür vor den Männern verschließt. Und dann sieht man am
Ende, wie ein kleiner Matrose zu Besuch kommt und wie sie ihn sofort voller
Freude umarmt.
Da ist ein jungverheiratetes Paar, das
den ganzen Tag im Bett verbringt.
Da ist ein älteres Ehepaar, das ständig
im Streit liegt. Er (Raymond Burr) ist Vertreter, also oft unterwegs. Sie ist
krank, liegt also meistens im Bett und erwartet, von ihrem Mann bedient zu werden.
Und da ist eine einsame Witwe, die unter
ihrer Einsamkeit leidet. Man sieht, wie sie einmal einen Herrenbesuch simuliert,
wie sie ein Essen vorbereitet, den Tisch deckt und schließlich die Gesten
einer Begrüßung pantomimisch spielt. Und dann sieht man, wie ein
Mann sie ein anderes Mal tatsächlich besucht und wie sie dabei seine Annäherungsversuche
nicht ertragen kann und ihn aus ihrer Wohnung wirft.
François Truffaut sagt dazu: „Alle
diese Geschichten haben als gemeinsamen Nenner die Liebe. James Stewarts Problem
ist, daß er keine Lust hat, Grace Kelly zu heiraten, und auf der Mauer
gegenüber sieht er nichts als Geschichten, die das Problem der Liebe und
der Ehe illustrieren."
Man kann die Geschichten, die sich im
Hof abspielen, auch als eine Sammlung unterschiedlicher Kinoformen sehen: mit
James Stewart als ohnmächtigem Zuschauer, der von dem, was er beobachtet,
völlig abgetrennt ist. Jedes Fenster würde danach eine eigene Kinoleinwand
darstellen. Und auf jeder Kinoleinwand liefe ein anderer Genrefilm.
Die Geschichte des Musikers kann man auch
sehen als: Komödie; die des kinderlosen Ehepaars: als Tragödie; und
die der alleinstehenden Tänzerin: als Farce. Die Geschichte des jungverheirateten
Paars kann man auch sehen: als Liebesfilm: die des älteren, unablässig
sich streitenden Ehepaars: als Thriller-, und die Geschichte der einsamen Witwe:
als Porträtstudie. Und für James Stewart als Zuschauer ist das alles
auch ein Kriminalfilm.
Eines nachts,
beim Beobachten, entdeckt er, wie der Vertreter mit seinem Musterkoffer mehrmals
seine Wohnung verläßt und wieder betritt. Und wie er sich dabei auch
vom Regen nicht stören läßt. James Stewart vermutet sofort ein
Verbrechen. Er packt seinen Feldstecher und sein größtes Teleobjektiv
aus und beobachtet seinen Nachbarn noch intensiver. Er gerät in eine Erregung,
die er von seinem Beruf her kennt. Die voyeuristische Lust erhält wieder
eine gesellschaftliche Legitimation. Sein widerlicher Voyeurismus ist wieder
in den Dienst einer öffentlichen Moral gestellt. Er beobachtet, wie Burr
große Fleischermesser einpackt, wie er das Zimmer seiner Frau auslüftet
und ihre Kleidung in Kisten verstaut, wie er den Schmuck seiner Frau begutachtet,
auch ihren Ehering.
Als Raymond Burr, der Mörder, dann
entdeckt, daß er entdeckt ist, sucht er Stewart auf. Er versteht nicht,
warum Stewart sich verhält, wie er sich verhält. „Warum tun Sie das?
Wollen Sie einen Haufen Geld? Ich hab' kein Geld!" Es kommt zum show down.
Dabei nutzt Stewart als Waffe ein Instrument, das er von seinem Beruf her kennt:
Sein Blitzlicht. Hitchcock dazu: „Ich halte es für entscheidend, daß
man sich immer der Dinge bedient, die eng mit den Personen den Orten der Handlung
verbunden sind und ich habe das Gefühl, etwas zu vernachlässigen,
wenn ich auf sie verzichte.
»Rear Window« ist, wie fast
alle Hitchcock-Filme, ein Thriller. Durch die Komik um Stewarts Unbeweglichkeit
und nicht zuletzt durch Thelma Ritter aber ist der Film auch insgesamt eine
sarkastische Komödie. Alle Ordnungen, die man sieht oder aus Andeutungen
sich zusammenreimen kann, haben bei Hitchcock einen doppelten Boden. Hinter
dem Schein, der von den Oberflächen ausgeht und den Hitchcock als selbstverständlichen
Bestandteil der Dinge inszeniert, verbirgt sich alles Ungewisse. Hitchcock genügt
es, den Schein der Dinge zu organisieren. So baut er Spannungsverhältnisse
auf. Gerade das, was nicht gezeigt wird, provoziert Verstörungen, aber
auch Assoziationen, die mit dem Leben des Zuschauers zu tun haben. Hitchcocks
Auslassungen sind oft skurril, oft böse, gelegentlich sogar hinterhältig.
Fast immer aber funktionieren sie wie eine Leere, in die unbewußte Ängste
eingehen. Es muß Hitchcock selbst ein großes Vergnügen bereitet
haben, wenn er ganz harmlose Situationen zu Episoden aufbauen konnte, die beim
Zuschauer die geheimsten Wünsche wachriefen. In »Rear Window«
kann man sehen, wie nahe diesen Wünschen und Ängsten auch der Witz
ist. Wenn Thelma Ritter das Doppelbödige von Situationen und Verhaltensweisen
kommentiert, erkennt man hinter dem Schein der Dinge auch die befreienden Elemente
der Komik.
Komisch ist auch, wie James Stewart sich
den ganzen Film über gegen Grace Kellys Liebeserklärungen wehrt und
wie selbstgewiß sie seine abwehrenden Einwände ad absurdum führt.
Wenn er ihr den Chic ihrer Kleidung vorhält und den Aufwand, den dieser
Chic voraussetzt, besucht sie ihn das nächste Mal mit einem Köfferchen,
in das alles hineinpaßt, was sie für eine Nacht braucht. Wenn er
ihr Perfektion vorwirft, bringt sie das nächste
Mal, ohne von ihrer Perfektion den kleinsten Abstrich zu machen, ihre Arrangements
spielerischer vor. Und wenn er immer wieder betont, wie leicht und bequem er
allein zurechtkommt, beweist sie ihm ganz nebenbei, also ohne auch nur ein einziges
Wort darüber zu verlieren, daß er letztlich doch auf ihre Hilfe angewiesen
bleibt.
In einer der dramatischsten Szenen des
Films sieht man einmal James Stewart als jammernden Tölpel und Grace Kelly
als coole Tatfrau, die alles im Griff hat. Grace Kelly ist in Burrs Wohnung
eingestiegen, weil sie den endgültigen Beweis für dessen Schuld finden
will. Dabei wird sie von Burr überrascht. Stewart schreit, jammert, windet
sich, fleht. Er reagiert so machtlos, so ängstlich, wie wir Zuschauer reagieren,
wenn wir in einem schönen Kinofilm Humphrey Bogart oder Bobby Mitchum in
Gefahr wissen. Nur Grace Kelly bleibt ruhig. Noch während sie sich gegen
Raymond Burr wehrt, weist sie - sie weiß ja, daß Stewart sie mit
dem Tele beobachtet - auf ihre rechte Hand. Dort trägt sie das Beweisstück:
den Ehering der Frau. Truffaut sagt dazu: „Für Grace Kelly ist es wie ein
doppelter Sieg, sie hat Erfolg bei ihren Nachforschungen, und sie bringt es
fertig, daß Stewart sie heiratet. Sie hat den Ring schon am Finger."
Komik und Schrecken, die Komödie und der Thriller bedürfen - mehr
noch als andere Kinoeffekte, mehr als andere Kinogenres - der synthetischen
Verdichtung. Für Hitchcock ist das nie eine Frage oder gar ein Problem
gewesen. Seine Fiktionen beziehen sich nie auf Wahrscheinlichkeit oder Psychologie.
Sie gründen im System ihrer selbst; d.h. sie sind sich selbst genug. Immer
sorgen deshalb Hinweise dafür, daß die Fiktion als Fiktion erkennbar
wird. Und gerade das ist Hitchcocks großer Trick. Gerade das macht den
Zuschauer offen für Verführungen. Da denkt der sich meistens noch
als Herr seiner Sinne, wo er längst schon in Hitchcocks magische, mystische
Welten gezerrt ist.
Hitchcock erzählt seine Geschichten
gerne, indem er lustvoll vorzeigt, wie schnell alltägliche, als selbstverständlich
akzeptierte Sicherheiten einbrechen. Seine Bilder sind deshalb strikt dramaturgisch
geordnet: auf emotionale Wirkungen hin. Oberstes Ziel seiner Ästhetik ist
es, „das Rechteck der Leinwand ... mit Emotionen (aufzuladen)", die der
Zuschauer nicht nur beobachtet, sondern selbst empfindet, die er also am eigenen
Körper erfährt. So schafft er mit präzisen, auf die Sekunde rhythmisierten
Bildfolgen eine dichte Atmosphäre, die den Zuschauer eine Emotion nach
der anderen durchleben läßt. Hitchcock füllt die Leinwand mit
Gefühlen und erreicht, daß diese Gefühle in den Bildern zu Gefühlen
des Zuschauers werden.
In dem bereits erwähnten Essay hat
Helmut Färber die Handlung von Hitchcocks Filmen mit einem „Raum"
verglichen. „dessen Wände mit Spiegeln bedeckt sind. Wie man von einem
Spiegel immer wieder in einen anderen, durch eine Ebene hindurch immer noch
auf eine andere sieht, so setzen sich die Handlungsmotive der Hitchcockfilme
in immer wieder noch einer anderen Schicht fort."
Wer als Zuschauer erstmals in einen dieser
Räume eintritt, etwa in den Raum, den »Rear Window«, eines
seiner definitiven Meisterwerke, vorstellt, wird sich in den zahllosen Spiegelungen
seiner selbst verlieren -und wiederfinden. Für eine kurze Zeit, vielleicht
nur für einige Minuten, wird er fühlen, was wirklich Kino ist.
Norbert Grob
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd Film 3/1984
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Das
Fenster zum Hof
(1954)
REAR
WINDOW
USA
- 1954 - 112 min. - Verleih: Paramount, Universal (Video) - Erstaufführung:
8.4.1955/2.11.1988 DFF 2/18.11.1999 Video - Produktionsfirma: Paramount - Produktion:
Alfred Hitchcock
Regie:
Alfred Hitchcock
Buch:
John Michael Hayes
Vorlage:
nach einer Erzählung von Cornell Woolrich
Kamera:
Robert Burks
Musik:
Franz Waxman
Schnitt:
George Tomasini
Special
Effects: John P. Fulton
Darsteller:
James
Stewart (L. B. Jeffries)
Grace
Kelly (Lisa Carol Freemont)
Wendell
Corey (Tom Doyle)
Thelma
Ritter (Stella)
Raymond
Burr (Lars Thorwald)
Judith
Evelyn
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