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Fish Tank
Miserabilismus zu sehr ermäßigten Konditionen
In "Fish
Tank" lässt Andrea Arnold ihre Heldin Mia einen sozialen Flipperparcours
absolvieren. Sie knallt mal an dies, mal an das, und wir immer mit.
Startschuss. Mia rennt los. Mia tanzt in einer leeren
Wohnung in einem Sozialbau. Mia übt ihre Moves, dazu
aus dem CD-Walkman mit den Billiglautsprechern die Musik. Mia rennt weiter.
Sie beobachtet andere Mädchen, die unten auf einer Freifläche tanzen,
legt sich mit ihnen an, knallt der einen mit der Stirn voll gegen die Nase,
so dass diese blutet. Mia ist fünfzehn, Mia rennt, sie hat diesen eigentümlichen
hetzenden Gang, in dem etwas wild Entschlossenes steckt, ein Davonlaufen und
ein Draufgehen, aggressiv, eckig, nicht zu stoppen. Wie eine losgeschossene
Flipperkugel rennt sie durch diesen Film, einen von Andrea Arnold aufgebauten
Hindernisparcours. Immer an ihr dran, immer hinter ihr her. Wogegen immer sie
im Verlauf knallen wird (manchen, manche, manches), wir knallen mit. Die Kamera
ist, in etwas flüssigerer, aber ebenso entschlossener Bewegung dabei. Und
was immer ins Bild kommt, bleibt neben Mia Hindernis, steht im Weg, muss über
die oft heftigen Begegnungen mit der Heldin begriffen und erschlossen werden
oder als nur im Anschnitt sichtbares Mia-Objekt rätselhaft bleiben.
Zentrale Konstellation: Familie. Mutter und jüngere
Schwester. Proletarische Mutter und auch nicht auf den Mund gefallene Schwester.
Ein Haus, wie der frühe Mike Leigh sie auch baute. Kitchen-Sink-Bilderbuch.
Die Mutter, nicht minder attraktiv als Mia (alle Frauen und Mädchen und
Männer sind hier sehr attraktiv, muss man sagen), treibt es mit wechselnden
Männern. Der Alkohol fließt. Der Ton zwischen Mutter und Töchtern
ist alles andere als zärtlich. Eine Sozialarbeiterin sitzt irgendwann auf
der Couch und man erfährt, Mia soll weg, auf eine Sonderschule mit besonderer
Betreuung am anderen Ort. Da rennt, entschlossen, wütend, aggressiv, mit
eigentümlichem Gang Mia davon. Sie rennt - und nie weiß sie wohin.
Das Flipperfeld, durch das sie jagt, kennt kein Außen. Sie knallt nur
gegen dies, dann gegen das. Als Metapher (oder so) steht ein Pferd herum im
Film, das Mia von seinen Ketten befreien will. Eine sinnlose Aktion, mit dem
jungen Mann, dem das Pferd gehört, geht nach anfänglichen Schwierigkeiten
am Ende aber was. Das Pferd ist nicht befreit (sondern tot), aber Mia hat eine
Aussicht.
Das zentrale Objekt, gegen das Mia knallt, ist Connor
(Michael Fassbender). Als Lover der Mutter taucht er in Mias Zuhause auf,
in der Küche begegnen sie sich. Connor, nackter Oberkörper, ist nicht
minder attraktiv als all die anderen Menschen in diesem Film mit seinem Miserabilismus zu sehr ermäßigten Konditionen. Die Berührungen,
die sich zwischen Mia und Connor ergeben, sind durchaus komplex. Hier gibt es
zärtliche Blicke, Ruhemomente, geradezu haptische Bilder ungeteilter Aufmerksamkeit.
Ganz nah rückt die Kamera hier an Mia, schmiegt sich an ihren Blick und
die Bilder sind dann für kurze Zeit warm.
Connor ist ein Mann mit Geheimnis, das sich, weil man
ihn nur durch die Focus-Figur Mia sieht, erst nach und nach lüftet. Eine
Zuneigung entsteht, gemeinsam fahren alle einmal hinaus in die Natur in Essex
und Connor fängt einen Fisch mit den Händen. Poetische Momente wie
diesen schaltet Andrea Arnold immer mal wieder in ihre Studie rasanter
Bewegung. Bäume im Wind, Stillstellungen, Atemholen. Als rhythmische Komposition,
als Studie sinnlos verbrannter Energie funktioniert "Fish Tank"
sehr gut und mit der Mia-Darstellerin Katie Jarvis macht der Film eine dann
auch vielfach ausgezeichnete Entdeckung.
Eine Mischung aus den Dardennes,
Mike Leigh und Spurenelementen von Claire Denis ist das. Wie schon der Vorgänger
"Red Road" irritiert auch
Andrea Arnolds neuer Film mit einer Virtuosität, die sich dem Rauen, das
er behauptet, mit einer seltsamen formalen Glätte nähert. Die Menschen
sind zu attraktiv, der Rhythmus ist zu verführerisch, der Miserabilismus
ist zu poetisch, die Konstellationen münden gern ins Klischee. Trotzdem
ist es immer wieder auch toll, wie Mia als fortgesetzter Energieschock - und
weniger als eine auserklärte und sozial genau verortete Figur - durch diesen
Parcours jagt. Den Realismus-Insinuationen von "Fish Tank"
sollte man misstrauen. Als ziemlich virtuos inszenierter sozialer Flipperparcours
hat der Film aber eine eigene Kraft.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Fish Tank
Großbritannien 2009 - Regie: Andrea Arnold - Darsteller: Katie Jarvis, Michael Fassbender, Kierston Waring, Rebecca Griffiths, Sydney Mary Nash, Harry Treadaway, Carrie-Ann Savill, Grant Wild, Chelsea Chase - FSK: ab 12 - Länge: 122 min. - Start: 23.9.2010
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