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Die
Fremde
Ihre
Welten kreuzen sich. Sibel Kekilli leidet in Die Fremde unter Gesellschaft und
Familie. Sehr sogar.
Bastard.
So werden sie Cem nennen, wenn ihn Kemal nicht zu sich zurückholt. Ein
Bastard wird er in ihren Augen sein, ein Kind ohne Vater. Mit seiner Mutter
Umay ist er auf der Flucht: weg vom prügelnden Ehemann und Vater, weg aus
dem staubigen Vorort Istanbuls, raus aus der Türkei. Und zurück nach
Berlin, zur Familie der Mutter.
In
Feo Aladags Regiedebüt Die
Fremde
(2010) spielen Flucht, Rückkehr und das permanente Hin und Her zwischen
beidem eine entscheidende Rolle im Leben von Umay und ihrem Sohn. Das freudige
Wiedersehen in Deutschland bereitet lediglich ein weiteres Verlassen vor. Die
Schande, die Umay über ihre Familie gebracht hat, wiegt schwerer als die
private Bande und zwingt zu einer zweiten Flucht: zuerst in ein Frauenhaus zum
Schutz vor ihrem älteren Bruder und schließlich in eine eigene Wohnung.
Umay beginnt von vorne: neuer Job, neuer Freund, neues Leben. Das alte jedoch
kann sie nicht loslassen, zu sehr wünscht sie sich den Kontakt mit ihren
Eltern, ihren beiden Brüdern und ihrer Schwester, die für sie ihre
Familie bleiben. Immer wieder versucht Umay eine Versöhnung herbeizuführen,
immer wieder wird sie zurückgewiesen, die Distanz wird bei jeder Bemühung
neu manifestiert.
Sibel
Kekilli spielt Umay mit einer schmerzvollen Intensität, mit der sie auch
ihre mehrfach preisgekrönte Rolle in Gegen
die Wand
(2004) aufgeladen hat. Als Mutter erscheint sie kraftvoll, wie sie in gleichem
Maße als Tochter und Schwester verletzlich ist. Umays Wunsch, ein selbstbestimmtes
Leben zu führen und zugleich die Liebe ihrer Familie zu erhalten, begründet
Flucht und Rückkehr als treibende Momente ihres Handelns, die sich ständig
zu wiederholen beginnen. Es ist ein Kräftemessen der Gegensätze, die
in Umay wüten und sich in Kekillis Darstellung leidenschaftlich Bahn brechen.
Entrückte Freude nach einem ersten Rendezvous mit ihrem Arbeitskollegen
paart sich mit maßloser Trauer, nachdem sie brutal von der Hochzeit ihrer
eigenen Schwester verwiesen wurde. Verschiedene Welten, die zu stark auseinanderdriften,
als dass sie zusammengehalten werden könnten.
Die
Figuren in Feo Aladags Film, für dessen Drehbuch die Regisseurin ebenfalls
verantwortlich zeichnet, sind klar konturiert, die Rollen verteilt. Als ihre
Eltern zwischen Umay, Cem und dem Ansehen der Familie in der türkischen
Gemeinschaft wählen müssen, entscheiden sie sich nicht für die
Tochter. Alle Mitglieder ihrer Familie ziehen eine Grenze, die sie nicht überschreiten
werden. Lediglich Umays kleinerer Bruder versucht sich als Weltenbummler, nur
um seine große Schwester umso mehr zurückzuweisen. Sie alle wirken
wie einseitig Getriebene einer Gesellschaft, aus deren Verantwortung sie sich
nicht lösen können. Das macht die inneren Konflikte, die sie mit sich
austragen müssen, jedoch nicht schwächer. Im Gegenteil, die Zerrissenheit
der Figuren ist in beinahe jeder Szene spürbar.
Ein
Umstand, der dem Film leider nicht ausnahmslos gut tut. Zu sehr konzentriert
sich Die
Fremde
auf die Misere der Protagonisten, allen voran der Hauptdarstellerin – und verwendet
viel Zeit und Energie darauf, diese möglichst plakativ darzustellen. Besonders
zu Anfang und zu Ende arrangiert Feo Aladag eine fast schon aufdringliche Melange
aus ästhetisierten Bildern und diffuser Geräuschkulisse: Zeitlupe,
Unschärfe, Herzklopfen, gedämpfte Stimmen angeordnet zu einer Partitur
des Leidens, unterlegt von gravitätischer Klaviermusik.
Der
Film wiederholt den Konflikt zwischen familiären und gesellschaftlichen
Erwartungen ständig und wird an diesen Stellen selbst zum Leidtragenden
einer überdramatisierten Inszenierung. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb
demaskiert Die
Fremde
ein Verständnis von Ehre, das nach außen hin den Schein bewahrt,
nach innen jedoch verheerend wirkt. Ein Verständnis, das vor nichts zurückschreckt,
auch nicht vor einem Mord. Warum sie immer etwas liegen lässt, fragt Cem
seine Mutter, als sie wieder einmal ihr Zuhause wechseln. Wenn man geht, so
lautet ihre Antwort, lässt man immer etwas von sich da. Am Ende muss Umay
etwas unwiderruflich zurücklassen.
Jan
van Helt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.critic.de
Die
Fremde
Deutschland
2010
Laufzeit:
119 Minuten
Regie:
Feo Aladag
Drehbuch:
Feo Aladag
Produktion:
Feo Aladag, Züli Aladag
Darsteller:
Sibel Kekilli, Nizam Schiller, Derya Alabora, Settar Tanriogen, Serhad Can,
Almila Bagriacik, Tamer Yigit, Alwara Höfels, Florian Lukas, Blanca Apilanez
Fernandez, Mustafa Jouni
Kamera:
Judith Kaufmann
Musik:
Stéphane Moucha, Max Richter
Schnitt:
Andrea Mertens
Kinostart
(D): 11.03.2010
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