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Gangs
Der
schönste Satz, der den Machern von „Gangs“ zu ihrem Film eingefallen ist,
gleich vorweg: „Die Straßen von Berlin sprechen ihre eigene Sprache.“
Leider hat man bei dieser Wiedervorlage des Gang-Films im Westentaschenformat
vergessen, einen kompetenten Übersetzer zu konsultieren. Es würde
auch nicht verwundern, wenn dieser komplett synthetische Berlin-Film in den
Bavaria Studios gedreht worden wäre, denn so leer wie in „Gangs“ sind die
Straßen von Berlin nur im Studio. Wenngleich das Presseheft behauptet:
„Dort, wo die Hauptstadt am gefährlichsten ist, befindet sich das Revier
der ,Rox‘.“ Oder vielleicht doch zwei leere Straßenzüge weiter, wo
das Revier der konkurrierenden „78er“ beginnt. Einer asiatischen Gang, deren
Vintage-Streetwear dem Chinatown-Kiez der Hauptstadt einen bunten Farbtupfer
verleiht.
Das
Problem, an dem der Film laboriert, liegt jedoch woanders: Auch die wildesten
Kerle kommen allmählich in die Jahre, und Waldorf-Schüler Jimi Blue
Ochsenknecht (Jahrgang 1991) darf jetzt nicht nur Führerschein und Realschulabschluss
machen, sondern muss auch an seine alternde Zielgruppe denken. „Gangs“ erzählt
folglich die knallharte Geschichte, wie es dem Jungstar nach „Sommer“ (fd 38
666), dem Ausflug an die Nordseeküste, ergangen ist. Etwas Transfer muss
dabei schon geleistet werden: Jimi heißt jetzt Flo und kämpft nicht
länger auf Amrum mit Killerquallen, sondern trägt als Mitglied der
multikulturellen, aber nur semi-coolen Gang der „Rox“ so schwer an seiner schicken
Lederjacke wie an ersten Anflügen einer Schwundstufe von Nachdenklichkeit.
Sein älterer Bruder Chris (Wilson Gonzales Ochsenknecht) ist gerade aus
dem Knast entlassen worden, wohin er kam, als er sich auf windige Geschäfte
mit den wirklich gefährlichen und deshalb auch modisch extravaganten Killaz
eingelassen hat. Während Chris gerne mit vorgestreckter Unterlippe durch
den Kiez rebelliert, weil er vom Alkoholiker-Vater einst schwer misshandelt
wurde, ist Flo spürbar weniger traumatisiert und eigentlich viel zu brav
für das harte Leben in der Gang. Deshalb verliebt er sich auch gleich in
Sofie, die schöne, hochtalentierte Ballett-Tänzerin aus gutem Hause,
die ihrerseits unter den Ansprüchen ihrer ehrgeizigen Mutter leidet. Die
Mutter wird von Marie-Lou Sellem gespielt, was der gröbste Casting-Fehler
dieses Films ist, denn eine richtige Schauspielerin unter so vielen Darstellern
wirkt als störender Fremdkörper, als permanente Provokation.
Was
folgt, ist voraussehbar: Harmlose Gang-Abenteuer, coole Sprüche und Posen,
aufregende Dekors, gewagte Motorradstunts, erste Liebe und daraus erwachsene
moralische Konflikte – und ein kleines bisschen Gewalt. Man sieht: Allzu weit
wagen sich die wilden Kerle noch nicht aus ihrem Abenteuerland, wohin die Erwachsenen
keinen Zutritt haben. Und wenn es mal gefährlich wird, ruft man selbstverständlich
die Polizei. Gemeinsam spielt man so ehrgeizlos und uninspiriert diverse Schlüsselszenen
aus einschlägigen Jugendfilmen nach, wobei „Bad Boy“ Wilson Gonzales erstaunlicherweise
über noch weniger Talent als Jimi Blue verfügt, ältere Zuschauer
aber allein durch sein Aussehen daran erinnert, dass Vater Uwe Ochsenknecht
in den 1970er-Jahren seine Karriere als Darsteller gefährdeter Jugendlicher
begann.
Als
reines Fantasieprodukt ist „Gangs“ frei von jeder Verortung im Sozialen, wirkt
wie ein Musical ohne Musik und Rhythmus. Bezeichnend, dass von einem dramaturgisch
bedeutsamen Buch, dass zwischen Flo, Sofie und Chris umhergereicht wird, nur
der Titel „Unterwegs“ wiederholt ins Bild gerückt wird, aber weder der
Name des Autors Jack Kerouac genannt noch sonst ein Wort über den Inhalt
gewechselt wird. Stereotypen und Genre-Zitate werden derart unverfroren auf
falsche Posen und hilflose Dialog-Plattitüden gehäuft, dass man sich
des Eindrucks nicht erwehren kann, hier wollten alle Beteiligten ihrer Verachtung
der jugendlichen Zielgruppe Ausdruck verleihen. Frei nach dem Motto: Wer so
blöd ist, dass er sein Taschengeld für „Gangs“ ausgibt, hat nichts
Besseres verdient.
Ulrich
Kriest
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Gangs
Deutschland
2008
Produktion:
SamFilm
Produzent:
Andreas Ulmke-Smeaton , Ewa Karlström
Regie:
Rainer Matsutani
Buch:
Peer Klehmet, Sebastian Wehlings
Kamera:
Clemens Messow
Musik:
Wolfram de Marco
Schnitt:
Marco Pav D'Auria
Darsteller:
Jimi Blue Ochsenknecht (Flo), Emilia Schüle (Sofie), Wilson Gonzalez Ochsenknecht
(Chris), Michael Keseroglu (Rambo), Kai-Michael Müller (Nuri), Jannis Niewöhner
(Jan), Sina Tkotsch (Stella), Aaron Le (Otto), Christian Blümel (Rico),
Marie-Lou Sellem (Sofies Mutter)
Länge:
90 Minuten
FSK:
ab 12; f
Verleih Kino: Walt Disney
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