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Geh
und lebe
Gelobtes
Land
Als »Undercover Jude« könnte
dieser Film in der Videothek oder bei RTL 2 landen, wenn er denn Gegenstand
für diese Schublade wäre, und es ist schon eine unglaubliche historische
Ironie, dass jemand vorgibt, ein Jude zu sein, insbesondere im Kino, wo es unzählige
Beispielfilme gibt, die gerade die gegensätzliche Verschleierung zum Thema
haben. Für den neunjährigen Salomon allerdings ist es die einzige
Möglichkeit, dem Elend Äthiopiens zu entfliehen. Als es dort um die
Jahreswende 1984/85 zu einer Hungerkatastrophe kommt, gelangen mit Hilfe Israels
und der Vereinigten Staaten im Zuge der »Operation Moses« mehrere
tausend schwarze äthiopische Juden nach Israel. Salomon ist eigentlich
keiner von ihnen, aber seine Mutter bläut es ihm solange ein, bis er selbst
davon überzeugt ist und schließlich das rettende Flugzeug besteigen
darf. Der Junge gelangt sprichwörtlich ins Gelobte Land. Dort gilt er als
Waise und wird von einer sephardischen Familie, die aus Frankreich eingewandert
ist, adoptiert. Eher widerwillig nennt er sich nun Schlomo und wächst in
Tel Aviv auf – stets in Sorge, dass die Wahrheit ans Licht kommen und er ob
seiner Lebenslüge überführt werden könnte.
Das eher spröde Thema der persönlichen
Identität bewegt auf mehreren Ebenen, zumal Regisseur und Autor Radu Mihaileanu
sich kaum mit einfachen Antworten zufrieden gibt und ständig neue, unbequeme
Fragen aufwirft. Geh und
lebe begnügt sich
dabei nicht mit seiner außergewöhnlichen Coming-of-Age-Story – der
Film begleitet Salomon über mehr als zehn Jahre – er behandelt, beinahe
im Vorbeigehen, auch Themen wie den alltäglichen Rassismus, religiösen
Eifer und Culture Clashes, ohne jemals zum »Issue Movie« zu verkommen.
Damit passt er zweifelsohne ins derzeitige Klima des allgegenwärtigen politischen
Kinos, das die Berlinale und die Oscars zuletzt verströmten, hinterlässt
jedoch auf unangestrengte Art einen eher zeitlosen Eindruck.
Von einem, der auszog, um der Held seines
eigenen Lebens zu werden – wie in John Irvings The
Cider House Rules – schließt
sich der Lebenskreis von Mihaileanus epischer Geschichte, als Salomon schließlich
als Arzt nach Äthiopien zurückkehrt und seine Sehnsucht nach der Mutter
und dem Gefühl von Heimat in einem markerschütternden Schrei herauslässt.
Ob er jemals bei sich selbst ankommt, weiß nur Salomon allein.
Carsten Happe
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Geh und lebe
Va, vis et deviens. F/B/ISR/I 2005. R,B: Radu Mihaileanu. B: Alain-Michel Blanc. K: Rémy Chevrin. S: Catherine Le Mignant-Labye, Ludo Troch. M: Armand Amar. P: Oi Oi
Oi Productions. D: Yael Abecassis, Roschdy Zem, Moshe Agazai, Moshe Abebe, Sirak
M. Sarahat u.a.
144 Min.
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