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Das Gelände
Lob der Beharrlichkeit! Der Filmemacher Martin Gressmann scheint selbst
nicht recht zu wissen, was ihn mit seiner 35mm-Kamera immer wieder an jenen
Ort in Berlin direkt an der Mauer zwischen Martin-Gropius-Bau, Anhalter- und
Wilhelmstraße geführt hat. Seit 1985. War es die Großmutter,
die davon erzählte, dass man es während der NS-Zeit tunlichst vermied,
die Prinz-Albrecht-Straße zu wählen und stattdessen lieber Umwege
in Kauf nahm? Hier hatten die Gestapo und das Reichssicherheitshauptamt einst
ihren Sitz. Von hier aus wurden zwischen 1933 und 1945 Terror und Völkermord
in Europa geplant, verwaltet und exekutiert. Und zwar von einer Elite der gebildeten
Mittelschicht, von denen gut die Hälfte in unterschiedlichsten Fächern
promoviert hatte und die alles andere als „nur“ Schreibtischtäter waren.
Gressmann nennt sein Beharren rückblickend einen „Kontrollgang“, der wohl
auch Sühne-, Buß- und Spaziergang gewesen sein mag.
1985, als „Das Gelände“ beginnt, ist von dem Gebäudekomplex
nichts mehr zu sehen. Wer damals den Martin-Gropius-Bau besuchte, um vielleicht
die legendäre „Zeitgeist“-Ausstellung zu besuchen, wird das umliegende
Gelände als eine verwilderte Brache voller Schutt erinnern. „Sich ein Gebäude
vorzustellen, das nicht mehr da ist, ist das Schicksal des Areals“, heißt
es im Film an einer Stelle. Aber natürlich ist die Geschichte noch da,
mehrschichtig gar, am Ort des Verbrechens – mit dem Gebäude von Görings
Luftfahrtministerium auf der anderen Seite der Mauer. Über 27 Jahre hat
Gressmann Bilder und Stimmen von und zu diesem Ort gesammelt und diese dann
zusammen mit Bettina Böhler zu einer ganz und gar erstaunlichen wie überraschenden
Polyphonie über Geschichte und Erinnerung montiert. Neben dem subjektiven
Kommentar des Filmemachers, der in einen Dialog mit seiner Großmutter
tritt, kommen zunächst anonym bleibende Stimmen anderer Personen hinzu,
die ganz unterschiedliche Diskurse in den Film einspeisen: Hier treffen (Kultur-)Historiker,
Juristen, Archäologen, Architekten, Ökologen und Politiker zusammen,
die das Gelände aus unterschiedlichsten Perspektiven zum Sprechen bringen.
Ein Glücksfall natürlich auch: dass die Geschichte selbst,
während die Kamera läuft, Fahrt aufnimmt. Was 1985 noch ein öder
Biotop ist, aus dem sich die Anwohner ihre kostenlosen Weihnachtsbäumen
besorgen und der erst sehr allmählich ins Blickfeld von kritischen Stadthistorikern
und Archäologen gerät, bekommt 1987 eher zufällig einen Namen:
„Topografie des Terrors“ – und wird zum langfristigen „Projekt“. Spätestens
1989/90, wenn Mauerspechte Löcher in den „anti-faschistischen Wall“ hacken,
wird das Gelände zum „Filetstück“ künftiger Stadtentwicklung
und weckt Begehrlichkeiten. Wie es im Film so schön formuliert wird: man
ahnt, dass es in der neuen Bundeshauptstadt einen Ort geben werden muss, an
dem die alte Reichshauptstadt erinnert wird.
Gressmanns Kamera lässt den Blick schweifen, registriert die
Veränderungen an den Rändern des Geländes, dokumentiert Demonstrationen
gegen die „Treuhand“, die jetzt im alten Luftfahrtministerium residiert. Wir
sind dabei, wenn das neue Abgeordnetenhaus am 28.4.1993 eröffnet wird.
Wir werden Zeugen, wenn eine CDU-Veranstaltung zum Abzug der Alliierten durch
einen Wolkenbruch beendet wird. So wie einst die Denkmal-Enthüllung in
Staudtes Verfilmung von „Der Untertan“ (fd 2502). Wir
sehen Hanna-Renate Laurien, Ignatz Bubis und Horst Köhler und erleben,
wie der Tourismus immer internationalere Gäste parlierend auf das Gelände
führt, wo das vom Architekten Peter Zumthor entworfene, ambitionierte Mahnmal
erst begonnen, dann aus finanziellen Gründen abgebrochen und schließlich
selbst wieder abgerissen wird (wie die Mauer!). Wir werden daran erinnert, dass
das Finanzministerium für den Film „Operation Walküre“
(fd 39 082) zum Bendler-Block umdrapiert wurde, damit Tom Cruise die Heldengeschichte
vom Widerstand der Wehrmacht in die Welt hinaustragen konnte. Ein Treppenwitz
der Geschichte. Und wir erleben schließlich doch noch, dass die Gedenkstätte
„Topografie des Terrors“ schließlich neu konzeptualisiert, realisiert
und zugerichtet wird, wo selbst ein kleiner verbliebener Rest Urwald zum Konzept
gehört.
Es ist eine abenteuerliche Reise, auf die Gressmanns Film den Zuschauer einlädt: die Geschichte selbst macht aus einer Randlage wieder das Zentrum, das einmal war, das einmal auch unschuldig(er) war, wie ein Gemälde von Adolf Menzel erzählt. Dass zwischen 1933 und 1945 im Zentrum der Macht gefoltert wurde, scheint Kalkül gewesen zu sein, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier vor allem ohne jedes Ethos Völkermord geplant und exekutiert wurde. Man hört Walter Benjamin: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.“ Und man muss auch an Alexander Kluge denken, wenn lakonisch darauf verwiesen wird, dass ein 1987 gekappter Weihnachtsbaum mittlerweile die stattliche Höhe von 15 Metern erreicht hätte. Großartig!
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: filmdienst 11/2015
Das Gelände
Deutschland 2013 - Produktionsfirma: Martin Gressmann - Regie: Martin Gressmann
- Produktion: Martin Gressmann - Buch: Martin Gressmann - Kamera: Martin Gressmann,
Volker Gläser, Hanno Lentz, Ralph Netzer - Musik: Brynmor Jones - Schnitt:
Bettina Böhler - Start(D): 21.05.2015 Wiederaufführung (D): 9.11.2016
- 90 Min. - FSK: ab 0; f - Verleih: Real Fiction
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