zur startseite
zum archiv
zu den essays
Geron
Von Anfang an sei "Geron" als ein Film geplant gewesen,
der ein anderes und größeres als sein übliches Publikum erreichen
sollte, der deshalb vergleichsweise konventioneller und vergleichsweise weniger
explizit erzählt sein würde, im Austausch dafür größer
budgetiert sei, was wiederum dazu führen sollte, das Team ordentlich zu
bezahlen, sagt Bruce LaBruce über seinen neuen Film freimütig in Interviews.
"Geron" (Im Original: "Gerontophilia") ist also ein Bruce-LaBruce-Film,
der wenig von einem Bruce-LaBruce-Film hat. Oder? Unser Autor ist sich uneins
und unterhält sich via E-Mail mit seinem inneren Arschloch.
30.10.2014, 16:45
Liebes Arschloch!
Habe mir gerade den neuen Bruce LaBruce angesehen und bin ziemlich überrascht,
aber begeistert. Was ganz anderes diesmal, ne Liebesgeschichte zwischen einem
sehr jungen Krankenpfleger und einem ziemlich alten Mann, aber ganz ohne Zombies,
ejakulierende Schwänze, Punks oder Genderbending. Mutige Entscheidung von
LaBruce, zum ersten Mal einen konventionell-narrativen Film zu drehen, aber
es gelingt ihm ganz gut. Das Ganze ist ziemlich berührend inszeniert und
hat mich nach dem anfänglichen Schock, dass ich mich auf eine lineare Geschichte
einlassen muss, dann doch sehr mitgenommen.
Gruß, Toby
--------------------------------------
30.10.2014, 17:06
Lieber Toby!
Das kann jetzt echt nicht dein Ernst sein, oder? Erstens habe ich den Film auch
gesehen (und werde jetzt nie wieder einen LaBruce gucken) und zweitens: Wie
redest du denn? "... ?dann doch sehr mitgenommen"?? Reden wir hier
über Brokeback Mountain oder Geron?
Der Film, um es kurz zu machen, ist eine Frechheit. Sell Out total. Ich erwarte
von Bruce LaBruce, dass er verstört, provoziert, queert, Kontroversen lostritt
und sich vom Mainstream fernhält. Geron ist für ein breites Publikum
gemacht, gefällig, zahm und damit LaBruces eigenes Grab. Glaubwürdigkeit
vollkommen weg. Von dem Parfüm, das er gerade auf den Markt gebracht hat
ganz zu schweigen? ...
Gruß, Arschloch
--------------------------------------
30.10.2014, 17:25
Liebes Arschloch!
Argumentieren konntest du noch nie gut. Ausverkauf also? Weshalb ein Regisseur,
der seit fast zwanzig Jahren Underground- und Avantgardefilme dreht, nicht das
Recht hat, auch mal Genre zu machen und, anstatt ein Nischenphänomen zu
bleiben, jetzt mal ein größeres Publikum anspricht, ist mir vollkommen
unklar. Geron ist ein wichtiges Statement, gerade auch innerhalb der schwulen
Subkulturen. Es bricht mit Tabus und hält uns den Spiegel vor unsere jungendwahnsinnigen
Gesichter. Der Film provoziert, vielleicht nicht so wie bumsende Zombies, aber
Gerontophilie ist eben ein reelles Phänomen und kann schlecht in eine Farce
verpackt werden, wenn man’s ernst damit meint. Bruce LaBruce will etwas sagen
und dafür braucht es eben auch eine bestimmte filmische Form. Zudem: Was
ist an einem jungen heterosexuellen Mann, der plötzlich nur noch auf alte
Männer steht und ein Coming-Out vor sich hat, nicht queer?
Gruß, Toby
--------------------------------------
30.10.2014, 17:51
Lieber Toby!
Oh, gerade hat LaBruce noch Susanne Sachsse in Männerklamotten in den Darkroom
des Ficken 3000 gesteckt (Pierrot Lunaire, großartig), zuvor Terroristenpunks
einen gekidnappten Banker per Analsex gezwungen, Teil ihrer homosexuellen Intifada
zu werden (The Raspberry Reich, großartig),
und jetzt - Schocker! - Junge liebt Alten? Was mich am meisten stört, ist
die Biederkeit. Als Jake zum Beispiel als Bademeister sein persönliches
Initiationserlebnis hat und einen alten Mann durch Mund-zu-Mund-Beatmung rettet,
bekommt er eine Erektion - sollen wir jedenfalls glauben. Schauspieler/Modell
Pier-Gabriel Lajoie guckt beschämt, hält sich die Hose und rennt weg.
Warum zeigt uns das Bruce LaPorno nicht? Warum deutet er die Sexszenen später
nur an und lässt uns nicht einmal dabei sein? Das wäre mutig, das
wäre revolutionär - alte und junge Körper beim wilden Vögeln.
Stattdessen zeichnet er alles weich, man sieht nicht mal Lajoies Schwanz - das
ärgert mich am meisten?…
Gruß, Arschloch
--------------------------------------
30.10.2014, 18:13
Liebes Arschloch!
Um das Schockieren durch Darstellen geht es LaBruce, wie gesagt, meiner Meinung
hier gar nicht. Wir müssen die beiden nicht ficken sehen, um zu verstehen,
dass sie eine gesellschaftlich unmögliche Liebe füreinander empfinden.
Der ganz großartige und natürlich zuckersüße Pier-Gabriel
Lajoie ist auch kein Punk oder Pornodarsteller, sondern Model und angehender
Schauspieler. Bei den Dreharbeiten war er 18 und da hat man noch was zu verlieren.
Sex spielt hier eine ganz andere Rolle als in LaBruces vorherigen Filmen, in
denen das Zeigen von Sex, das Ausstellen des Akts, das Zelebrieren des Fickens
noch eine besondere Funktion hatte - mal Revolution, mal Ekel, mal Emanzipation
oder Anarchie. Geron ist hingegen ein klassisches Coming-of-Age-Drama, das an
ein untypisches Coming-Out gekoppelt ist. Es geht um gesellschaftliche Strukturen,
um Akzeptanz, um unmögliche Sexualitäten - also gar nicht mal so weit
entfernt von LaBruces anderen Filmen. Was würdest du denn sagen - um diese
müßige Autorendebatte mal abzukürzen - wenn jemand anderes den
Film gemacht hätte?
Gruß, Toby
--------------------------------------
30.10.2014, 18:56
Lieber Toby!
Gott, wie akademisch - man kann auch jeden Bruce-LaBruce-Film zerreden! Aber
zu deiner Frage: Die kann man so eben nicht mehr stellen. Bruce LaBruce ist
selbst seine eigene Marke geworden und an der muss er sich messen lassen. Genau
wie John Waters, der ja nach seinen wilden Anfängen dann plötzlich
meinte, Hairspray drehen zu müssen und (nicht nur) mich genauso enttäuscht
hat. Zudem sieht der Film ja auch aus, als ob ihn jemand anderes gemacht hätte.
Die ständigen Zeitlupen, das Verweilen im Moment, der tragende Soundtrack,
der einen die ganze Zeit an die Hand nimmt, die Mutter-Sohn-Geschichte - ich
dachte die ganze Zeit an Xavier Dolan - und, siehe da, dem wird auch im Abspann
gedankt. Will sich Bruce LaBruce jetzt verjüngen, indem er den Nachwuchs
kopiert?
Gruß, Arschloch
--------------------------------------
30.10.2014, 19:15
Liebes Arschloch!
Ja, sicher - deswegen dreht er einen Film über Liebe zu Alten?… Ich finde
diese Inszenierungstaktiken übrigens ganz wunderbar, genau wie die gesamte
Kameraarbeit von Nicolas Canniccioni. Es gab alles schon mal woanders, also
hör auf mit Dolan - lächerlich! Diese Zeitlupen sind ja auch nicht
so willkürlich und manieristisch gesetzt wie bei seinem kanadischen Landsmann.
Es geht immer um Momente des Erwachsens, des Kontemplativen, um die großen
Veränderungen von jemandem, der sich eingestehen muss, nicht "normal"
und auch nicht "normal schwul" zu sein. Zudem gibt es ja für
Arschlöcher wie dich dann doch noch einen LaBruce-Moment - erinnerst du
dich an die Albtraumsequenz, in der Lake nachts in das leere Krankenhaus kommt?
Gruß, Toby
--------------------------------------
30.10.2014, 19:24
PS: Ach und noch was: Hast du dir überhaupt mal über die Figur des
Mr. Peabody Gedanken gemacht? Und weißt du überhaupt, wer Walter
Borden ist, der ihn darstellt? Walter Borden ist ein offen schwuler, afro-kanadischer
Schauspieler und Schriftsteller, der das allererste Stück geschrieben hat,
das in der Black-Canadian-Literatur das Thema Homosexualität behandelt.
Eine Ikone. Und seine "Race" spielt im Film überhaupt keine Rolle,
sein Alter ja im Endeffekt auch nicht. Und schwule Männer, die schwule
Männer spielen, gibt es auch nicht alle Tage. Das machen meistens Heteros
und bekommen dafür nen Oscar. Schwule kriegen keine Rollen mehr und sicher
keine Preise dafür, dass sie überzeugend Heteros spielen. Aber jetzt
drifte ich ab.
--------------------------------------
30.10.2014, 20:35
Lieber Toby!
Ich weiß nicht, was Bordens Biografie jetzt mit dem Film zu tun haben
soll. Wird Geron dadurch besser? Ich muss auch nicht Wikipedia lesen, bevor
ich ins Kino gehe?... Und ob Homos keine Rollen mehr bekommen, weil sie sich
geoutet haben, ist mir auch scheißegal. Dann sollen sie’s halt verstecken.
Pier-Gabriel Lajoie zeigt sich übrigens auf Facebook nur mit jungen Frauen
im Arm, finde ich als Schwuler jetzt auch irgendwie scheiße. Wegen dem
bin ich doch ins Kino gegangen. Egal, ich guck' mir jetzt irgendwas Krasses
an, keinen Bock mehr auf diese nervige Diskussion.
Gruß, Arschloch
--------------------------------------
30.10.2014, 20:45
Ach ja, und der Titel ist von Gerontophilia auf Geron geschrumpft, damit niemand
verschreckt wird?... Was soll das überhaupt heißen - Geron? Macht
überhaupt keinen Sinn.
--------------------------------------
30.10.2014, 21:45
Liebes Arschloch!
Ach ja, auf einmal müssen Filmtitel bei Bruce LaBruce für dich Sinn
machen, ja? So Titel wie The Bad Breast; or, The Strange Case of Theda Lange
oder Otto;
or, Up with Dead People meinst du wohl?
Diese Diskussion wird mir zu müßig und wenn sie irgendetwas gezeigt
hat, dann ja wohl vor allem, dass Bruce LaBruce ein kontroverser, umstrittener
Regisseur bliebt, dass er mit einem zärtlichen Film schockieren kann, und
dass so bornierte Puristen wie du Forderungen an einen Regisseur stellen, die
von einer konservativen Einstellung zeugen - bitte immer ein bisschen vom Gleichen,
sonst bin ich kein Fan mehr. Wie unoffen kann man eigentlich sein? Und noch
was: Wenn Bruce LaBruce diesen Film so gemacht hat, wie er ihn gemacht hat,
um ein größeres Publikum anzusprechen, eine Jugendfreigabe zu bekommen
und vielleicht - Aufstand! - auch mal ein bisschen Geld zu verdienen, dann hat
er jedes verdammte Recht dazu. Deine dämliche und unreflektierte Erwartung,
dass bestimmte Künstler immer unten und arm bleiben müssen, ist neoliberaler
Bullshit. Du bist und bleibst eben ein Arschloch.
--------------------------------------
Toby Ashraf
Dieser Text ist zuerst erschienen im: Sissy Magazin Ausgabe 23, November 2014. Toby Ashraf erhielt dafür neben Andreas Busche (siehe hier) den Kracauer-Preis 2015 für die beste Filmkritik.
Geron
(Gerontophilia) - Kanada, Frankreich 2013 - 83 Min. - Start(D): 30.10.2014 -
FSK: ab 16 Jahre - Regie: Bruce LaBruce - Drehbuch: Daniel Allen Cox, Bruce
LaBruce - Produktion: Nicolas Comeau, Leonard Farlinger, Jennifer Jonas
- Kamera: Nicolas Canniccioni - Schnitt: Glenn Berman - Musik: Ramachandra Borcar
- Darsteller: Pier-Gabriel Lajoie, Walter Borden, Katie Boland, Marie-Hélène
Thibault, Nastassia Markiewicz, Shawn Campbell, Tamsen Fields, Moe Jeudy-Lamour,
Yardly Kavanagh - Verleih: Pro-Fun
zur startseite
zum archiv
zu den essays