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Gesichter
Die
Zeit fliegt
John
Cassavetes (1929-1989) wäre am 9. Dezember 2009 80 Jahre alt geworden.
Mit seiner vierten Regiearbeit „Faces" (1968) gelang dem Regisseur und
Schauspieler, der als „Vater des amerikanischen Independentfilms" gilt,
der künstlerische Durchbruch als Filmemacher.
„In
den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen
fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos,
wie eine Sanduhr." - Hugo
von Hofmannsthal,
„Der
Rosenkavalier"
Es
muss eine Liebesheirat gewesen sein. Und für ein Ehepaar, das schon lange
zusammenlebt, haben die beiden jetzt erstaunlich viel Spaß im Bett. Diesen
Eindruck jedenfalls geben die ersten Sekunden einer kurzen Szene aus „Faces",
in der Richard und Maria Forst sich in den Laken wälzen, ausgelassen herumkichern
und Küsse tauschen. Für einen Moment scheinen an diesem Abend in einem
schmucken Eigenheim in Los Angeles Oberflächlichkeit, Frustration und Ehekrach
verflogen, scheinen Cassavetes und seine Darsteller die Zähluhr des Beziehungszerfalls
auf Null zu stellen. Doch dann geht es wieder los. Aus Richards Lachen dröhnt
der Selbstüberdruss. Der Mann, gut eine Generation älter als seine
Frau, erzählt einen Witz nach dem anderen, amüsiert sich schier zu
Tode, während Maria allmählich verstummt und versteift. Richards Kalauer
sind flach und zugleich abgründig, weil sie die Lebenslage des Witzeerzählers
spiegeln: „Warum wirft ein Mann seine Uhr aus dem Fenster? Um zu sehen, wie
die Zeit verfliegt!"
Witzkaskaden,
Kalendersprüche, schmissige Songs, ungelenke Show-Einlagen, Großspurigkeit:
In John Cassavetes' Werk spielt das Prätentiöse eine große Rolle,
doch paradoxerweise schielen die Filme selbst nie nach Wirkung. Tiefe zu behaupten,
wo keine ist, scheint dieser Ästhetik fremd. Sie kommt weitgehend ohne
Off-Musik, raffiniertes Licht- und Schattenspiel oder ausgeklügelte Kadrierung
aus. Ihre Wirkung ergibt sich ganz aus der „Oberfläche" der darstellerischen
Aktion, aus der Reibungsenergie von Schauspielern, die sich gegenseitig befeuern
und von ihrem Regisseur, wenn es Not tut, noch zusätzlich angeheizt werden.
Nicht selten brachte Cassavetes seine Akteure mit Späßen und Sticheleien
aus dem Konzept, um ihnen ein authentisches Spiel abzuringen.
Allein
aus dem Titel des Films „Faces", der zwischen 1964 und 1968 unter abenteuerlichen
Umständen zustande kam, lässt sich das Programm herauslesen, das Cassavetes
nach „Shadows" (1958) und dann mit „Husbands" (1970), „A Woman Under
the Influence" (1974) oder „Love Streams" (1984) konsequent weiterverfolgte:
Aus Gesichtern, Oberflächlichkeiten, aus eruptiven Aktionen und opaker
Stille ein Bild seiner Figuren zu zeichnen, das keine Erklärungs- oder
Beurteilungsmuster erfüllt, sondern einfach nur ihr Zerriebensein zwischen
inneren Wunschwelten und gesellschaftlichen Rollenmodellen zeigt.
Überraschend
traf „Faces" den Nerv der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft der späten
1960er. Ende 1969 hatte der Film in den USA rund sechs Millionen Dollar eingespielt.
Für einen frei produzierten Spielfilm - Cassavetes' Biograph Ray Carney
nennt ihn tiefstapelnd ein „16mm-Home-Movie" - war das eine unerhörte
Summe. „Wunder über Wunder", jubelte auch Cassavetes, der hier erstmals
den Beweis lieferte, „dass Filmemacher ihre Zeit nicht damit verplempern müssen,
Müll zu produzieren, den sie nicht ausstehen können." Unzufrieden
mit seinen Hollywoodfilmen „Too Late Blues" (1961) und „A Child is Waiting"
(1962), wusste er, wovon er sprach. Nach dem Achtungserfolg seines unabhängig
produzierten Regiedebüts „Shadows" bedeutete „Faces" nichts Geringeres
als den Durchbruch des Independentfilms in Amerika - künstlerisch wie finanziell.
Die
Entstehungs-Chronik des Films liest sich streckenweise wie ein Unfallbericht.
„Faces" wurde in Privathäusern gedreht, mit „ehrenamtlichen"
Technikern und teils mit Laiendarstellern. Neben Profis wie John Marley (Richard
Frost), Seymour Cassell und Cassavetes' Ehefrau Gena Rowlands setzte der Regisseur
auch die vollkommen Schauspiel-unerfahrene Lynn Carlin (Maria Frost) ein, die
er - Zuckerbrot und Peitsche - zum Entsetzen der Crew mit Drohungen, Schlägen
und mit einem Schlachtermesser zu einer Oscar-reifen Performance antrieb (Wie
auch Cassell wurde Carlin immerhin für einen Academy Award nominiert; ihr
„Leidensweg" nimmt voraus, was Björk bei Dreh zu „Dancer
in the Dark"
mit Lars von Trier erleben sollte). Nach zahllosen Problemen mit unterschiedlichen
Schwarzweiß-Filmmaterialien und einem asynchron laufenden Tonbandgerät
konnte sich Cassavetes lange nicht zu einer publikumsfreundlichen Filmlänge
durchringen. Die erste Schnittfassung dauerte acht Stunden. Erst nach ernüchternden
Testvorführungen wurde das Material auf die endgültige Länge
von 130 Minuten gebracht. Endlich sprang der Funke auf die Zuschauer über.
Acht
ausgedehnte Sequenzen erzählen von 36 Stunden einer kaputten Ehe und den
Fluchtperspektiven, die sich für Richard und Maria auftun. Während
Richard eine befreiende Liaison mit einem Callgirl (Gena Rowlands) erlebt, wird
seine Frau von einem Gigolo verführt, schluckt am Ende der Nacht Schlaftabletten
und wird von jenem Chet (Seymour Cassel) aus dem Koma geholt. Die Unmittelbarkeit
der Darstellung überstrahlt die oft unlogischen Winkelzüge der äußeren
Handlung, die sich nur zum Teil aus den Kürzungen ergaben. Kohärenz
ist ohnehin Nebensache. (Wirklich abstrus wird die Story später in „Love
Streams", und auch da ist der Plot vollkommen gleichgültig). Ungereimtheiten
in den Charakteren selbst scheinen wiederum auf Cassavetes' Menschenbild zu
beruhen, dass er einmal so umschrieb: „Bei ‚Faces' werden die Leute im ersten
Teil richtig nervös, weil er in kein leicht verständliches Verhaltensmuster
passt. Ich kenne auch niemanden, der ein leicht verständliches Verhaltensmuster
hätte."
So
scheint ein in US-Spielfilmen wohl nie dagewesener Bruch durch die von John
Marley verkörperte Figur zu gehen, die in den Eheszenen sarkastisch bis
brutal wirkt, während die Begegnungen mit der Prostituierten Jeannie von
einer Zärtlichkeit geprägt sind, die man dem stressgegerbten Haudegen
Richard im normalen Leben nicht zutrauen würde. Gena Rowlands als Jeannie
Rapp wiederum spielt eine eigenartige Version von einem Callgirl, das in der
Realität an der Bereitschaft, sich in einen Kunden zu verlieben, beruflich
scheitern müsste. „Genas Vorstellung von Prostitution", bemerkte Cassavetes,
„ist schönes, rotes Licht, schöne Möbel und seidene Morgenmäntel,
also machen wir es so." Ergo: Schauspieler bestimmten bei ihm, wo es lang
ging. Vor allem Ausnahmedarsteller/innen wie Rowlands, die das Bild von Cassavetes-Filmen
in drei Jahrzehnten geprägt hat.
Zweimal
im Film wird Jeannie von Klienten - die mit Richard um ihre Gunst wie Kampfbullen
konkurrieren - daran erinnert, dass sie bloß eine gut bezahlte Hure sei,
zweimal verwahrt sich Jeannie gegen den Angriff. Doch Rowlands spielt das nicht
nur als Reaktion einer verletzten Frau. Vielmehr entsteht der Eindruck, als
trete die Darstellerin in solchen Momenten aus der Rolle heraus und wende sich
ans Publikum: „Zerstört die Illusion nicht", scheint sie uns zuzuflüstern,
„sie ist alles, was wir haben." In allen seinen Filmen zeigt Cassavetes
große Sympathie für Menschen, die sich an ihre Träume klammern
- meistens wider besseres Wissen (eindrucksvollstes Beispiel: Mabel in Cassavetes'
Meisterwerk „A Woman Under the Influence").
Ohnehin
ist Jeannie, die Illusionistin, so etwas wie die heimliche Hauptfigur des Films:
Jede ihrer Szenen beginnt mit einer frontalen Großaufnahme ihres Gesichts,
als visuelles Leitmotiv, das den Film strukturiert. Jeannies Bild, das aus dem
Rahmen tritt, wirkt wie ein kontrastives Ideal zum Eheleben der Forsts, das
in quälenden Ritualen und stereotypen Gesten erstarrt ist. Wie Richard
löst sich auch Maria aus der erstickenden Umarmung der Konvention und lässt
sich von einem Gelegenheitsliebhaber aufgabeln. Marias „Wiedergeburt" im
taghell erleuchteten Obergeschoss ihres Hauses zählt zu den schönsten
Szenen dieses Films, die Martin Scorsese übrigens als krönendes Ende
seiner „Reise durch den amerikanischen Film" gewählt hat.
Mit
Richards Eintreffen verblasst die Morgenröte. Chet flüchtet über
das Dach (ein atemberaubender Stunt von Seymour Cassell), Richard verprügelt
Maria, am Ende sitzt ein desillusioniertes, erschöpftes Paar an den äußeren
Enden der Treppe, wirft sich ein Feuerzeug über die Stufen zu, raucht und
schweigt. Beide haben gesehen, wie die Zeit verfliegt, sie haben mit einem Mal
erlebt, wie sie wundersam stillstehen kann und einem letztlich doch Tag um Tag
durch die Finger rinnt. „Performing the everyday" heißt ein Essay,
den Effie Rassos zu „Faces" geschrieben hat. „Zeit", heißt es
da treffend, „gewinnt materielle Präsenz. Die Zeit gehört nicht nur
den Figuren, sie ist auch meine." Wann sonst hat man im Kino das Gefühl,
das Essentielle mit den Menschen auf der Leinwand zu teilen?
Jens
Hinrichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Gesichter
(Faces)
USA
1968
Laufzeit:
126 Minuten
Regie:
John Cassavetes
Drehbuch:
John Cassavetes
Produktion:
Maurice McEndree, John Cassavetes
Darsteller:
Lynn Carlin, Gena Rowlands, Fred Draper, Seymour Cassel, Val Avery
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