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Giravolte - Freewheeling in Roma
Frottierendes Movere
Ein anarchierendes, frei flottierendes
Parlare, ein frottierendes Movere durch
ein schmutziges Rom der Straße ist
der Film „Giravolte“, und darin eine Liebeserklärung an die Stadt,
ein Cinemascope-Film bewusst eingebunden in die Geschichte des italienischen
Kinos und dazu eine Verortung in der Berlusconi-Ära, der mittleren, muss
dazu gesagt werden, denn obwohl der Film erst jetzt, 2010, in die deutschen
Kinos kommt, gibt es ihn schon seit 2001. Gedreht Ende der Neunziger, ist er
also sogar noch ein Vor-11. September-Film, was in Bezug auf das anhaltende
Berlusconi-Italien womöglich keinen großen Unterschied bedeutet.
Wenn die meisten Geschichten im Leben nur nachträgliche
Interpretationen sind und in Wahrheit unabgeschlossene Bruchstücke komplexerer
Zusammenhänge, dann folgt „Giravolte“ eben dieser Prämisse,
indem er einen Tag im Leben des Mittfünfzigers Victor Cavallo als Koinzidenz
zufälliger Begegnungen erzählt. Drei Akte, mit jeweils verschiedenen
filmischen Mitteln inszeniert.
Im ersten, dem freiesten Akt erlaubt sich die Regisseurin
das Aufbrechen der zeitlichen Abfolge: Das hitzige und wortreiche Mittagsmahl
Victors mit vier Männern unter einer Brücke am Tiber wird immer wieder
gestört durch Sequenzen eines versuchten Selbstmordes und einer Rettung.
Unaufhörlich kreist die Kamera um die Männer, die dubiose Theorien
um magische Steine entwickeln, in springenden Schnitten dazwischen ein weinendes
Mädchen, das dem Selbstmörder befiehlt, sich nicht aus dem Leben davon
zu machen.
Der zweite, weitgehend improvisierte Akt begleitet Victor
zum Flohmarkt, auf dem er Flyer verteilt, mit denen er sich als Kandidat für
die Bürgermeisterwahl vorstellt, sein Wahlkampfmotto: „Löse die Zeit auf in Gelächter“. Flohmarktsgeplänkel im dokumentarischen Stil, im wörtlichen Sinn auf
Augenhöhe mit den Besuchern, den Käufern und Verkäufern, deren
Gespräche über ihre Videos und Bücher nebenbei zu kulturkritischen
Statements geraten.
Den Ausklang bildet der ganz andere dritte Akt, ein klar
inszeniertes, witzig-skurriles Kammerspiel in einer Kneipe, in welcher Victor
auf ausgesuchte Typen trifft: darunter eine ältere Prostituierte, die aussieht
wie ein Relikt des klassischen italienischen Films, einen Polizisten, einen
jungen Musiker, ein gestrandetes amerikanisches Pärchen. Eine kurzzeitige
Ordnung, die die Nacht und der Alkohol bereit hält - und eine Regie, die
an Filmen von Fellini, des Neorealismus und, so scheints, auch
an Filmen des frühen Jim Jarmusch geschult ist.
Wir haben vieles zugleich im Film „Giravolte“: Ein stilistisches Patchwork, auch was die musikalischen Elemente
vom Jazz zu Trance betrifft, unterlegt wird der
Ton oft von einem fiktiven Radiosender, der unentwegt merkwürdige Nachrichten
sendet („Beschlagnahmung schadhafter DNA zwischen Albanien und dem Kosovo“),
und viele parallele, sich streifende, abgebrochene Geschichten des individuellen
Überlebenskampfes, von denen die des Victor sicherlich nicht die dramatischste
ist, der aber, ganz nach dem von Marcel Duchamp übernommenen Motto des
Films: „Die Energie der Seitenblicke nutzen“, als Zentrum dieses angenehm unkonventionellen,
im besten Sinne italienischen Werkes und als unbeugsam vitaler Zeuge eines gebeutelten
Italiens beste Dienste leistet.
Andreas Thomas
Benotung des Films: (7/10)
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de
Giravolte - Freewheeling in
Roma
OT: Giravolte
Italien 2001 - 85 min.
Regie: Carola Spadoni - Drehbuch:
Carola Spadoni, Graziano Misuraca - Produktion: Andrea
Costantini - Kamera: Paolo Carnera, Giulio Pietromarchi, Stefano Moser - Schnitt: Carlotta
Cristiani, Cecilia Pagliarani
- Musik: Carlotta Cristiani - Ton: Stefano Campus - Verleih: Arsenal - Besetzung:
Victor Cavallo, Emanuela Macchniz, Chiara Schoras, Vincenzo Pietroiaco, Danilo
Giannini, Moritz Alioto, Massimo De Santis,
Andrea Bruschi, Alberto Gimignani, Tommaso Gimignani, Alberto Grifi, Simone Donnini, Veronica Rosini,
Nahila Beserzio, Cesare Apolito, Lidia
Biondi, Rodolfo Borsela, Andrea
Cagliesi, Leandro Caramelli, Vincenzo Crivello, Drena De Niro, Raz Degan
Kinostart (D): 12.08.2010
IMDB-Link: http://www.imdb.de/title/tt0240043/
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