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Goethe!
Alles, alles wird erklärt
Den Sturm und Drang im Herzen: Philipp Stölzls
FIlm "Goethe!" hat einen guten Ansatz, aber
seine Schauspieler und dramaturgischen Ideen nicht recht im Griff.
Es ist das Jahr 1772. Goethe ist beim Examen durchgefallen
und wird vom Vater zur Strafe beim Gericht in Wetzlar untergebracht. In den
Literaturgeschichten steht, dass das damals die Zeit war, als die Individualität
erfunden wurde. Und so zeigt der Film das spätere Originalgenie als postpubertierenden
jungen Mann: den Sturm und Drang im Herzen, aber hineingesetzt in eine für
den eigenen Selbstentwurf zu kleine Welt. Das ist zunächst ein sympathisches
Setting. Außerdem ist man sowieso erst einmal froh, wenn unsere Klassiker
mal nicht als Wertegaranten wiederentdeckt werden. Noch etwas ist gut an diesem
Film: der Matsch. Regisseur Philipp Stölzl hat keinen cleanen Kostümfilm
abgeliefert. Bis an die Knie versinken die Figuren im Matsch, wenn sie über
die Straße gehen. An den Häusern blättert die Farbe ab. Wie
ärmlich das Leben war, macht der Film auch klar. Goethe wird sich ja in
Lotte Buff verlieben, das Vorbild für seine Lotte in den "Leiden
des jungen Werthers". Dass die aber über Sitten und guten Anstand
hinaus Grund hatte, bei ihrem Verlobten zu bleiben, kann man in dem Film gut
sehen. Dass es Brot in der Küche gibt, ist keine Selbstverständlichkeit.
Es ging schlicht um Lottes Versorgung und um die ihrer jüngeren Geschwister.
Es hätte also alles gut werden können mit "Goethe!".
Nur lässt der Film - allein schon dieses aufdringliche Ausrufezeichen im
Titel! - auch kaum eine Falle aus, die für eine deutsche Kinoproduktion
derzeit bereitliegen. Und das sind viele. Da wäre die Musikfalle: viel
zu dick aufgetragen. Die Überdeutlichkeitsfalle: alles, alles wird erklärt.
Die Naturkindfalle: Lotte (Miriam Stein) wirkt hier mit offener Wallemähne und frischem Blick wie eine aus allen Moden und Konventionen
herausgefallene junge Frau; als ob Verlieben nicht auch eine Kultivierung von
Verführung wäre. Und die Schauspielerfalle: Natürlich gibt es,
wie üblich bei deutschen Produktionen, wieder viele überpointierte
Gastauftritte bekannter Theater- und Fernsehschauspieler. Josef Ostendorf, Hans
Michael Rehberg, Axel Milberg, selbst Henry Hübchen
als Goethes Vater - einzig Burghart Klaußner als Lottes Vater wirkt glaubhaft. Das große Verhängnis
ist aber Moritz Bleibtreu als Goethes Gegenspieler und Lottes Verlobter. Am Anfang
legt Bleibtreu ihn zu verkniffen an, in der Mitte zu redlich und am
Schluss zu tragisch. Abnehmen tut man ihm keine Gefühlsregung. Philipp
Stölzl mag ein Gespür für Schauplätze haben. Seine Schauspieler
aber hat er zu wenig im Griff.
Zwei schlechte dramaturgische Entscheidungen lassen den
Film dann vollends kippen. Zum einen wird Literatur eins zu eins aus dem Leben
erklärt. Viele Szenen sind eine Art Preisraten für den Bildungsbürger
im Zuschauer: Welche Anspielungen an welche Goethe-Werke erkennt man? Zum anderen
werden Gefühle totplakatiert. Das lässt "Goethe!" am Schluss
zur Schmonzette werden. Im Film schreibt sich Goethe seinen "Werther"
nach einem Duell mit Albert im Gefängnis von der Seele. Das Problem daran
ist keineswegs, dass das anders ist als beim historischen Goethe. Sondern dass
es operettenhaft wirkt. Spätestens hier lohnt ein Blick in die Realgeschichte.
Tatsächlich schrieb Goethe seinen Werther nämlich erst, nachdem er
bereits in die nächste Frau unglücklich verliebt gewesen war; sein
Albert ist eher nach dem Modell des Ehemanns dieser nächsten Liebe, Maximiliane
hieß sie, gestaltet.
Schreiben ist ein komplizierter Prozess, von dem dieser
Film nichts weiß. Das ist das Hauptproblem. Ein Film über Goethe,
der nicht einen Einblick in die reale Giftstube des Schreibens wirft, ist viel
zu unbedarft. Wie schade. Denn es wäre doch - Öffentlich-Rechtliche
aufgepasst! - an der Zeit, über das Leben dieses Klassikers zum Beispiel
eine Fernsehserie zu drehen, die an die Standards US-amerikanischer Serien zumindest
herankommt.
Dirk Knipphals
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: taz
Goethe!
Deutschland 2010 - Regie: Philipp Stölzl - Darsteller:
Alexander Fehling, Miriam Stein, Moritz Bleibtreu,
Volker Bruch, Burghart Klaußner, Henry Hübchen, Hans-Michael
Rehberg, Vitus Wieser - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 6 - Länge:
99 min. - Start: 14.10.2010
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