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Gozu
Die
Entdeckung eines Meisters
Man sollte meinen, Takashi Miike könnte
nicht mehr überraschen. Man hat Audition gesehen, noch immer einer der Lieblingsschocker
des europäischen Arthousekinos, der eine zarte Romanze plötzlich mit
unaussprechlichen Folterszenen und wahnhaften Dramaturgiesprüngen zurechthackt.
Man hat Dead
or Alive gesehen,
diesen rustikal zupackenden Heat-Verschnitt, der einen testosterongeladenen
Cop-Thriller urplötzlich zum Fantasy-Comic mutieren läßt und
in seinem krönenden Abschluss noch schnell ganz Ostasien von der Landkarte
radiert. Man hat Ichi The
Killer gesehen, diesen
DVD-Geheimtipp unter Splatterfreunden, der das Superheldengenre mit einem gehirngewaschenen,
ständig masturbierenden Buchhalter neu aufrollt und einige der absurdesten
Blutbäder der jüngeren Filmgeschichte ausbreitet. Man hat natürlich
auch The Happiness of the
Katakuris gesehen, das
berüchtigte Heimatfilm-Zombie-Musical, das seinen pechschwarzen Plot am
Ende einfach unter einem Claymation-Vulkanausbruch begräbt und als vielleicht
erster Kinofilm überhaupt eine eigene Karaoke-Sequenz hat. Vielleicht hat
man sogar seinen süßen Superhelden-Kinderfilm Zebraman gesehen oder die Inzestsatire Visitor Q oder
den Zeitreise-Samurai-Horror Izo oder die Re-Appropriation des Yojimbo-Stoffes
durch den genrebegründenden Sukiyaki
Western Django. Mit welchem
Genre, welcher Stimmung, welcher neuen Verrücktheit könnte Takashi
Miike einen so präparierten Zuschauer noch überraschen?
Mit Gozu natürlich, der als Geschichte eines
kleinen Yakuza-Mafioso anfängt, der seinen paranoiden und zunehmend außer
Kontrolle geratenen Bruder erst beruhigen und dann entsorgen soll. Nur leider
geht die Leiche in einer mysteriösen Kleinstadt verloren, deren Bewohner
– irgendwie komisch sind. Geister? Verrückte? Beckett-Figuren? Oder doch
nur spleenige Landeier? Oder gar – Schauspieler (immerhin erwischt der Protagonist
einmal eine Amerikanerin beim Ablesen eines Transkripts der japanischen Dialoge)?
Derweil erwehrt sich unser Held einer aufdringlichen Gastwirtin, die ihn zur
Verköstigung ihrer Muttermilch zwingen will, der örtlichen Mafiagruppe,
die aus anderthalb Personen besteht und der wirren Träume von seinem toten
Bruder als Minotaurus (»Gozu« heißt übersetzt »Kuhkopf«).
Wie bei jedem Miike-Film hört sich
auch diese Inhaltsangabe eher wirr an, aber das Miterleben dieses Films hinterlässt
einen so profunden Eindruck, dass man nicht umhin kann, hier einen bisher viel
zu selten gewürdigten Großmeister der Kunstform Kino zu erkennen,
der aus allen stilistischen Rohren gleichzeitig feuert. Natürlich könnte
man diesen brillanten Hybridfilm mit bereits bekannten Namen und Stilen herleiten,
wenn man nur genug davon aufzählt. Das würde sich dann etwa so anhören:
David Lynch dreht U-Turn mit Gregory Crewdson als Kameramann,
Salvador Dalí als Art Director, Boris Karloff als Choreograph und David
Cronenberg als Special Effects Supervisor. Aber selbst eine solche Aufzählung
kommt dem Kern des Erstaunens nicht nah genug.
Weit außerhalb jeglicher Yakuza-
oder Horrorklischees endet hier keine Szene so, wie man erwartet hätte:
Aus einem konspirativen Yakuza-Treffen wird kindische Sexprahlerei, aus übertriebenem
Verfolgungswahn wird ein unschuldiger kleiner Hund als vermeintlicher Kampfspion
massakriert, und eine Geisterbeschwörung findet ihr Ende in einer der lustigsten
Wendungen der Horrorfilmgeschichte. Doch es sind noch nicht mal diese wahnwitzigen
Drehungen, die Sakichi Satos Drehbuch vollführt, auch nicht die dissonante
Musik des kongenialen Miike-Kollaborateurs Koji Endo, es ist Miikes meisterlich
ambivalente Inszenierung, die hier wirklich besticht: seine Fähigkeit,
verschiedene Genres teilweise innerhalb derselben Szene zu bedienen, rührt
von einer quasi aufs Skelett reduzierten, bewusst neutral gehaltenen Stimmung,
die Miike dank seiner ungeheuren Erfahrung in jede mögliche Richtung kippen
lassen kann – vom Kinderfilm bis zum Splatterhorror. Mit Hilfe einer unscheinbar
auf Augenhöhe operierenden Kamera, abrupten Musikeinsätzen, vielseitig
einsetzbaren Darstellern und ständig wechselnden Lichtstimmungen springt
Miike praktisch aus dem Stand in jeden gewünschten Modus.
Seine Arbeitswut ist ohnehin legendär:
Der gerade mal 47-jährige Japaner hat seit 1991 bei 76 Filmen als Regisseur
gewirkt, das sind unfassbare viereinhalb Filme pro Jahr, dagegen wirken selbst
die jahrzehntelangen Dauerarbeiter Woody Allen und Robert Altman wie faulenzende
Pauschaltouristen. Dass es dann meistens doch »nur« zu einem oder
zwei Meisterwerken pro Jahr reicht, ist verständlich, macht den Japaner
aber noch immer zu einem der vielseitigsten und faszinierendsten Filmemacher,
die der Westen noch nicht wirklich entdeckt und kanonisiert hat. Gozu
eignet sich durchaus, das zu ändern, die Krimigroteske ist ein passender
Einstieg in das verdrehte Gehirn eines einzigartigen Visionärs. Man könnte
zum Beweis das Ende verraten, aber es würde sich nur wirr anhören,
wenn man es nicht selbst erlebt hat.
Daniel Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen
im:
Gozu
Gokudo
kyofu dai-gekijô: Gozu. Japan
2003. R: Takashi Miike. B: Sakichi Sato. K: Kazunari Tanaka. Yasushi Shimamura.
M: Koji Endo. P: Rakuei-Sha. Klock Worx Co. D: Hideki
Sone, Sho Aikawa, Kimika Yoshino u.a.
129 Min.
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