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Haben
(oder nicht)
30
Sekunden Glück
Laetitia
Massons Film „Haben (oder nicht)“
Boulogne-sur-Mer
als bildfüllende Schrift, das Meer, eine Fischfabrik, ein Fließband
mit Arbeiterinnen im Seitwärtstravelling, die 26-jährige Alice (Sandrine
Kiberlain), die entlassen wird, bevor man zum ersten Mal ihr Gesicht sieht:
Die Kontinuität der Umstände und Verhältnisse dominiert das Erzählen
von ihnen. Nicht die logische Verknüpfung und der dramatische Zusammenhang
bestimmen hier die filmische Erzählung, sondern Brüche und Fragmente
einer prinzipiell austauschbaren Wirklichkeit, in der alles Erzählbare
eine Stellvertreterfunktion eingenommen hat. Der filmische Realismus ist in
sein postmodernes Stadium eingetreten: Nichts hat Dauer und Perspektive, alles
ist Übergang. (Bezeichnenderweise hat die französische Regisseurin
und Ahnfrau Claire Denis in der Rolle von Alices Mutter einen Gastauftritt.)
Der Ort definiert die Arbeit, und mit dem Verlust ihres Jobs wird Alice zur
Heimatlosen, die gleich auch noch mit ihrem Freund Schluss macht, was der Film
nicht zeigt, sondern als exemplarisches Rollenspiel von seiner Hauptdarstellerin
vorführen lässt.
Unbehaust
ist auch Bruno (Arnaud Giovaninetti), der in Lyon lebt und arbeitet und Fußball
spielt. Nach Feierabend geht er zu einer Prostituierten (Coralie Gengenbach),
ohne die Einsamkeit loszuwerden, die ihn lähmt, seit sich seine Freundin
von ihm getrennt hat. Er betrinkt sich in einer Bar, spricht auf der Straße
wahllos Passantinnen an. Jetzt hat er Unterschlupf bei seinem Freund Joseph
(Roschdy Zem) gefunden, der das nicht gerade noble „Hôtel Idéal“
leitet. „Haben oder Nichthaben“, sagt die französische Nachwuchsregisseurin
Laetitia Masson über ihren Debütfilm „Haben (oder nicht)“ („En avoir
(ou pas)“), sei die wahre Antwort auf „Sein oder Nichtsein“.
Die
Spiegelbildlichkeit dieser Geschichten behauptet ein perspektivischer Schnitt,
der sie miteinander verbindet: Alice liegt am Strand und hält die Geldscheine
in die Höhe, die ihr eben der zynische Beischlaf mit einem Personalchef
beschert hat. Da blicken wir plötzlich aus der Froschperspektive in die
Gesichter einer Handvoll Fußballer, die sich um einen am Boden liegenden
Spieler bemühen. Dieser Spieler ist Bruno, aber sein subjektiver Blick
ist sowohl derjenige von Alice als auch derjenige der Zuschauer.
Als
Alice in Lyon ankommt, singt Marianne Faithfull: „She lives alone with no one,
who can see she’s unhappy“. Im
“Hôtel Idéal” trifft sie, die “müde Giraffe”, Bruno, der sich
als “Schwarzen” bezeichnet. Ihre Annäherung verläuft nicht glatt,
gleicht eher einem wechselseitigen Anziehungs- und Abstoßungsprozess.
Und die Reinemachefrau, der gute Geist des Hotels, empfiehlt ihnen Arbeit gegen
das lästige, unfrei machende Denken. Aber schon die Interview-Sequenz zu
Beginn des Films zeigt die Mechanismen von Abhängigkeit und Unterdrückung
in den Koordinaten von Macht und Ohnmacht: Das Einstellungsgespräch als
Frage-Antwort-Spiel wird zur rückhaltlosen Prostitution der Bewerberinnen.
Im Spannungsfeld von Liebe und Arbeit sind 30 Sekunden Glück am Tag, wie
Alice einmal meint, schon viel.
Wolfgang
Nierlin
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12.6.1997
Haben
(oder nicht)
En
avoir (ou pas). Frankreich
1995. Regie, Buch: Laetitia Masson. Kamera: Caroline Champetier. Schnitt: Yann
Dedet. Darsteller:
Sandrine Kiberlain, Aranaud Giovaninetti, Roschdy Zem, Claire Denis u.a.
90 Min. Ventura ab 9.1.1997
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