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Händler der vier Jahreszeiten *
Hans Epp (Hans Hirschmüller) war in die Fremdenlegion gegangen um der lieblosen Fürsorge seiner Mutter (Gusti Kreissl) zu entfliehen. Als er zurückkehrt, begrüßt sie ihn: »Die Besten bleiben draußen, so einer wie du kommt zurück.« Hans geht zur Polizei, wird aber bald entlassen, weil er sich auf der Wache von einer Prostituierten hat verführen lassen. Er wird Obsthändler, verkauft seine Waren in Hinterhöfen. Seine »große Liebe« (Ingrid Caven) hat ihn nicht geheiratet, weil er sozial unter ihr steht. Seine Frau (Irm Hermann) liebt ihn nicht, quält ihn nur; er entzieht sich ihr durch häufigen Kneipenbesuch; zuhause schlägt er sie in hilfloser Wut. Als sie sich von ihm scheiden lassen will, bekommt er einen Herzinfarkt. Er erholt sich wieder und das Ehepaar bleibt zusammen. Da Hans nicht mehr schwer arbeiten darf, engagiert er eine Hilfskraft, Anzell (Karl Scheydt), mit dem ihn seine Frau, während er im Krankenhaus war, einmal betrogen hatte. Um den lästigen Mitwisser loszuwerden, veranlaßt sie Anzell, die Ware teurer zu verkaufen als mit Hans vereinbart. Hans, wie sie weiß, kommt ihm auf die Schliche, entläßt ihn, merkt aber, daß seine Frau ihn und Anzell in eine Falle gelockt hat. In einer Kneipe trifft Hans Harry (Klaus Löwitsch), mit dem er in der Fremdenlegion war. Harry tritt ins Geschäft ein, gewinnt das Vertrauen der Frau, das der kleinen Tochter (Andrea Schober), der er bei den Hausaufgaben hilft. Hans wird immer stiller: er merkt, daß er nicht mehr benötigt wird. Er macht Abschiedsbesuche bei seiner Familie. Von der Kaffeetafel aus geht er in seine Stammkneipe und säuft sich in Gegenwart Harrys, seiner Frau und anderer systematisch zu Tode. Nach der Beerdigung tun sich die Witwe und Harry zusammen.
Kein anderer Film Fassbinders ist von der Kritik mit so viel Zustimmung
aufgenommen worden. Günther Pflaum schrieb: »Für mich ist es
der beste deutsche Film seit dem Krieg« (Süddeutsche Zeitung, 10.3.72).
Wilfried Wiegand: »einer der wichtigsten deutschen Filme seit Jahren«
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.5.72). Was die Kritiker überwältigte
und was auch heute überzeugt, ist die Einfachheit, mit der Fassbinder seine
Geschichte erzählt, die Souveränität, mit der er den aus unzähligen
Trivialfilmen, vor allem dem Melodram, gegebenen Rahmen mit Leben füllt.
»Fassbinder siegt über diese Klischees, indem er die Emotionen wahrmacht,
die sie tragen« (Urs Jenny Filmkritik 5/72). Er behandelt noch die schaudernerregendsten
Figuren, die Mutter, die Ehefrau, mit Geduld, fast mit Zärtlichkeit; hinter
ihrer Härte werden Verletzlichkeit, Hilflosigkeit spürbar. Die Mutter,
Oberhaupt einer von Fassbinders vaterlosen Familien, will ihren einzigen Sohn
zu einem Ersatz-Vater erziehen. Die Ehefrau gibt keine Liebe, aber sie empfängt
auch keine von ihrem Mann, der schon gebrochen ist, als sie heiraten.
Fassbinders ganze Sympathie gilt aber Hans; der Film ist aus seinem Blickwinkel
gedreht. Selbst in den wenigen Szenen, in denen er nicht dabei ist (als die
Frau hilfesuchend zu ihrer Schwiegermutter eilt; als sie mit Anzell im Bett
liegt; als sie nach der Beerdigung das Abkommen mit Harry schließt), verhalten
sich die Personen so, wie er es sich vorstellt, wie er es befürchtet, weiß
oder voraussieht, wie sie sich verhalten müssen als Reaktion auf seine
Reaktion. die wiederum eine Antwort auf ihre Reaktionen ist, usw. Gegen diesen
unheilvollen Kreislauf, dem er zuerst entkommen will (er ist der erste Fassbinder-Held,
dem nicht nur die Flucht gelingt - das geschieht auch in RIO DAS MORTES
- sondern der auch zurückkehrt, desillusioniert), wehrt er sich dann gar
nicht mehr. Sein allmähliches Verstummen, eine stärkere Anklage als
jeder noch so laute Schrei, gibt dem Film die ungewöhnliche emotionale
Kraft. Fassbinder begreift allerdings diese Familientragödie nicht allein
als privates Drama, er sieht in ihr auch zeitbedingte Züge. DER HÄNDLER
DER VIER JAHRESZEITEN ist das erste Werk des jungen deutschen Films über
die fünfziger Jahre, die »Ära Adenauer«, das »Wirtschaftswunder«.
Die Kleider und Frisuren, die Zimmereinrichtungen und Küchen - das hat
schon optisch jene Enge, aus der es kein Entweichen gibt. Daneben Anachronismen.
Manches weist weiter zurück, in die Nazizeit: Hanna Schygullas weißes
Kleid und ihre hochgesteckte Frisur - und die Namen: Epp war in Bayern ein bekannter
Nazi; und der Rechtsanwalt der Familie heißt von Schirach. Anderes stammt
aus der Gegenwart: die Autonummern, die Telefonapparate. Während aber die
Achtlosigkeit, mit der in PIONIERE IN INGOLSTADT die Zeitebenen durcheinandergebracht
werden, verwirrt und verärgert, wirken die Brüche hier als bewußte
(?) Irritation: Die Geschichte hat zwar in der Nachkriegszeit stattgefunden
und dort ihre Wurzeln, aber das, was sie möglich machte, ist heute nicht
überwunden.
Wilhelm Roth
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Rainer Werner Fassbinder; Band 2 (5. Auflage) der (leider eingestellten) Reihe
Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1985, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser Verlags und des Autors Wilhelm Roth.
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Händler der vier Jahreszeiten, BRD 1971 - Regie: Rainer Werner Fassbinder - Buch: Rainer Werner Fassbinder - Kamera: Dietrich Lohmann - Kamera-Assitent: Herbert Paetzold, Peter Gauhe - Licht: Ekkehard Heinrich - Schnitt: Thea Eymèsz - Musik: "Buonna Notte" von Rocco Granata; Archiv - Ausstattung: Kurt Raab - Regie-Assistent: Harry Baer - Darsteller: Hans Hirschmüller (Hans Epp, Obsthändler), Irm Herrmann (Irmgard Epp, seine Frau), Hanna Schygulla (erste Schwester), Andrea Schober (Kind), Gusti Kreissl (Mutter), Kurt Raab (Schwager), Heide Simon (zweite Schwester), Klaus Löwitsch (Harry), Karl Scheydt (Anzell), Ingrid Caven (große Liebe), Peter Chatel (Arzt), Lilo Pempeit (Kundin), Walter Sedlmayr (Verkäufer des Obstkarrens), Salem El Hedi (Araber), Hark Bohm (Polizist), Daniel Schmid / Harry Baer / Marian Seidowski (drei Bewerber), Michael Fengler (Playboy), Rainer Werner Fassbinder (Zucker), Elga Sorbas (Marile Kosemund) - Produktionsfirma: Tango-Film, München Produktionsleitung: Ingrid Fassbinder (d.i. Ingrid Caven) - Kosten: 178.000 DM - Drehzeit: 11 Tage / August 1971 - Drehort: München - Uraufführung: 10.2.1972 Paris (Cinémathéque) - Erstaufführung in der BRD: 10.3.1972 - TV-Erstausstrahlung: 10.3.1972 (ZDF) / Wdh: 8.5.1974, 5.4.1978, 14.6.1982 - Format: 35 mm, Farbe - Länge: 2.429 m=89 min. - Verleih: Filmverlag der Autoren (35 mm)
* Der Titel ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Französischen. Ein umherziehender Obst- und Grünwarenhändler heißt in Frankreich marchand des quatre-saisons.
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