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Heima
The
Iceland Cometh
In der altgriechischen Kosmologie gab
es die Vorstellung von Himmelsschichten, die durch Rotation und Reibung Töne
erzeugen, Pythagoras von Samos nannte dies die »Sphärenmusik«
– und sie muss wohl so ähnlich geklungen haben wie Sigur Rós. Die
isländische Band bringt mit Heima eine ungewöhnliche DVD auf den Markt,
die zugleich Konzertfilm, Tourdoku und Landschafts- und Menschenporträt
ihrer Heimat ist. Es ist ein Meilenstein aller drei Genres geworden.
Und wie das mit Meisterwerken so ist,
ging erstmal alles schief. Als 2004 die Dreharbeiten auf Island begannen, damals
noch unter dem etwas kruden Arbeitstitel »Lost in the Lava«, gab
es logistische Probleme ohne Ende: Seit Jahrzehnten war keine ernstzunehmende
Band mehr über die Insel getourt. Schließlich versammeln sich ohnehin
zwei Drittel der Bevölkerung im Großraum Reykjavík, außer
ein paar Studentenstädten im Norden gibt es weder Orte noch Publikum, um
eine Tour zu rechtfertigen. Dazu kam das Problem des Lichts: Mangels großer
Säle musste viel im Freien gespielt werden, aber da Sigur Rós bei
ihren Auftritten eine elaborierte Lichtshow pflegen und diese auch im Film dokumentieren
wollten, musste ein sehr enges Fenster im Spätsommer gesucht werden, das
schon abendliche Dunkelheit, aber noch nicht winterliche Kälte mit sich
brachte. Vom typisch isländischen Regen ganz zu schweigen.
Doch damit nicht genug: Die Ergebnisse
der Dreharbeiten, immerhin 120 Stunden Material, stellten die Band nicht zufrieden,
und dann kam auch noch das neue Album dazwischen und verzögerte das Projekt
um ein volles Jahr. Eine faulere Band hätte an diesem Punkt die bisherigen
Mitschnitte wahrscheinlich einfach auf den Markt geworfen, aber die schüchternen
Isländer, die ihre T-Shirts von befreundeten Malerinnen pinseln und von
Hand drucken lassen, waren mal wieder perfektionistisch. Sie gingen 2006 noch
einmal auf Tour über die Insel, und dieses Mal machten sie alles richtig:
In einer äußerst ungewöhnlichen Aktion spielten sie kostenlose
und meist unangekündigte Konzerte auf Heuwiesen und in Gemeindesälen,
in verlassenen Fischfabriken und aufgegebenen Künstlerkommunen, in hallenden
Basalthöhlen und vor einer Handvoll Demonstranten an einem Staudammprojekt.
Die euphorischen isländischen Zeitungen, die diese Tour zur nationalen
Identitätsstiftung hochjubelten, sorgten für ein Publikum aus Bauern,
Großmüttern, Schulkindern und erlebnishungrigen Jugendlichen.
Zum Abschlusskonzert in einem Park in
Reykjavík kamen 25.000 Zuschauer, knapp ein Zehntel der nationalen Bevölkerung,
es war das größte Konzert jemals auf isländischem Boden. Die
Band wurde so zu ihren Extremen gebracht, sie spielte ihre kleinsten ebenso
wie ihre größten Shows und war inmitten der Lavawüste zu ihrem
ersten analogen Konzert gezwungen. Überhaupt ist es die ungewohnte Offenheit
einer sonst sehr zurückhaltenden Band, die die familiäre Atmosphäre
des Films prägt: Kinder, Freunde, Familien und Lebensgefährten dürfen
aushilfsweise Instrumente spielen; die lokale Blaskapelle jubiliert zur Begeisterung
der Ortsansässigen einmal quer über die Bühne und improvisiert
das gerade gespielte Songthema im Jazzstil weiter; ein befreundeter Künstler
lädt die vier Jungs zu einer erstaunlichen Jam-Session an seine Marimba
aus Schiefersteinen; ein lokaler Geistesbeschwörer bittet Berge und Elfen
um gutes Wetter für einen Freiluftauftritt (erfolgreich übrigens);
die Band lässt den großen isländischen Folkloristen Steindór
Anderson auf einem Festmahl in heidnischer Tradition seine traurigen Weisen
singen, während die Leute im Zuschauerraum das Fleisch aus gekochten Schafsköpfen
schälen und dazu den berüchtigten Branntwein nippen, den hier alle
nur »Schwarzer Tod« nennen.
Als wäre all dieser stundenlange
Wahnwitz nicht unterhaltsam genug, konnten Sigur Rós den kanadischen
Regisseur Dean DeBlois, bisher nur durch den subversiven Disney-Reißer
Lilo & Stitch aufgefallen, dazu gewinnen, 2007 noch
ein drittes Mal die Insel zu umrunden, um in kristallklarem High Definition
einige beinahe außerirdisch anmutende Naturaufnahmen sowie ein paar einfühlsame
Porträts der Einwohner zu filmen. Erst durch diese Bilder und die erstaunlich
assoziative Arbeit des britischen Editors Nick Fenton beschreitet Heima wirklich
neue Wege: Statt einer visuellen Studie der Band beim Einspielen der Lieder
schweift die Kamera immer wieder ab, filmt die brodelnde Erde Islands beim Atmen,
folgt spielenden Kindern am Strand oder studiert die Ringmuster in Regenpfützen.
Für Island-Freunde wird diese DVD
dadurch zur unersetzlichen Reliquie. Die Landschaftsaufnahmen sind schlicht
atemberaubend: Das Meer ist schwarz und kräuselt sich träge und dickflüssig,
die von Möwen bevölkerten Wolken reißen den Himmel auf und zu,
die schroffen Basaltberge starren schwarz und spitzkantig in die Landschaft
hinaus. Mit einer der Musik angemessenen Mischung aus Verspieltheit und Pathos
dreht DeBlois dazu die Farbfilter von der Übersättigung bis zu Monochromie,
wechselt mit der Band den Rhythmus von besinnlichen Klängen zu wagnerianischem
Größenwahn und wagt sogar die eine oder andere rückwärts
abgespielte Aufnahme. Weitwinkelaufnahmen von davongleitenden Straßen
und Wasserwegen geben dabei den Eindruck eines melancholischen Road Movies,
es entsteht das Porträt eines geheimnisvollen Landes oder besser: Die Bebilderung
und Dokumentation eines musikalischen Interpretationsversuches dieses Landes.
Eine Liebeserklärung an die »Heima«, bei der Musik und Bild
so eng miteinander verschmelzen, als wären sie von Anfang an zusammen erdacht
worden.
Am liebsten aber vernachlässigt der
Film die Band zugunsten der Zuschauer: staunende Schulkinder, die mit großen
Augen stirnrunzelnd die Bühne überblicken, auf der Suche nach einer
Erklärung für diese seltsamen Klänge; bärtige Mannsbilder
in Strickpullis, die verschämt ihren Arm um die Frau an ihrer Seite legen;
bebrillte Kirchenkreislerinnen mit Baby auf dem Arm, die lächelnd Kuchen
löffeln oder ihre selbstbemalten Seidenschals um den Finger wickeln; mitwippende
Jugendliche mit Wollmützen und dampfenden Kaffeetassen in der Hand. Eine
Band ist immer nur so interessant wie ihr Publikum, und man könnte diesen
Isländern stundenlang beim Stillsitzen und Zuhören zusehen. Hier orientiert
sich Heima bewusst an anderen Genreklassikern wie Jazz
on a Summer’s Day und
Pink Floyd live at Pompej, die ebenfalls durch wenige, unaufgeregte
Schnitte und sehr lange und langsame Schwenks über Publikum und Umgebung
bestachen.
Die Band ist also Nebensache, trotzdem
gewähren die sensiblen Interviews und eine Handvoll scheinbar widersprüchlicher
Bilder einen tiefen Einblick in die Mechanismen dieser so introvertierten Gruppe.
Die vier Stammitglieder erscheinen als schüchterne Kunststudenten mit bravem
Scheitel, die gerne herumalbern und sich (genauso wie die vier sie begleitenden
Streicherinnen der Gruppe Amiina) mit kindlicher Begeisterung an jede Art von
Instrumenten setzen. Ihre improvisatorische Herangehensweise und das ständige
Weiterentwickeln ihrer Grundharmonien spiegelt dabei auch die Evolution ihres
Heimatlandes wider, das ebenfalls ein »work in progress« ist, immer
wieder neue Inseln aus dem Meer hebt und mit ebenso unerwarteten Eruptionen
aufwartet.
Wer einen noch genaueren Blick hinter
die Kulissen wagen möchte, wird beim spöttisch-liebevollen Commentary
des Bandmanagers John Best gleich nochmal grandios unterhalten – der redselige
Brite plaudert schon mal aus, wenn eine Aufnahme zu dunkel geraten ist oder
einem Bandmitglied der schwere Kater vom Vorabendbesäufnis noch anzusehen
ist. Und als die Kamera die Band bei einem Linkshand-Weitwurfwettbewerb mitten
in der Steinwüste entdeckt, seufzt Best: »Man merkt schon, so richtig
viel los ist auf Island nicht.« Wie
Unrecht dieser Mann hat!
Daniel Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Heima
EMI
Music / Krunk
Sprachen:
Englisch
1,78:1
(anamorph / 16:9)
Extras:
Audiokommentar des Produzenten, 16 Clips von Live-Performances
97
Min.
IS 2007. R: Dean DeBlois. M,D: Sigur Rós. P: Klikk Production, Truenorth Productions.
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