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Jean-Claude
Brisseaus Film „Heimliche Spiele“ untersucht die Mechanismen sexueller Macht
Eine Theorie
der Lust und Verführung eröffnet Jean-Claude Brisseaus neuen, ebenso
aufsehenerregenden wie spekulativen Film „Heimliche Spiele“ (Choses secrètes).
Nathalie (Coralie Revel), eine attraktive junge Frau, tanzt nackt durch das
Halbdunkel eines zunächst nicht näher definierten Raums und macht
den Kinozuschauer zum Voyeur. Ihre laszive Performance antizipiert das Begehren
der Blicke und verwandelt es in erotische Stärke. Denn sobald die Bewegung
der Kamera den vermeintlich privaten Raum in einen öffentlichen überführt,
wird klar, daß wir nicht allein sind, sondern uns in einem Stripteaselokal
befinden. Die aufreizenden Bewegungen Nathalies stehen also in einem direkten
Austausch mit den besitzergreifenden Blicken ihrer Bewunderer. Die Lust des
Schauens antwortet hier auf die Lust des Gesehen-Werdens. Indem sich Nathalie
zur Schau stellt und die Macht ihrer Verführungskunst spürt, erlebt
sie selbst sexuellen Genuß und Befriedigung. Der Voyeur dient ihr nur
als Verstärker und Bestätigung ihrer Hingabe an sich selbst.
Gekoppelt ist dieser
Diskurs weiblicher Macht mit jenem des sozialen Aufstiegs. Brisseau fragt nach
den gesellschaftlichen und moralischen Grenzen des primär auf Triebbefriedigung
ausgerichteten menschlichen Verhaltens, zeigt in übersteigerter, zugespitzter
Weise die nicht nur emotionalen Folgen des Tabubruchs und forscht nebenbei nach
den unhintergehbaren Instanzen, deren Normen letztlich das Zusammenleben regeln.
Die fiktionalen Ausschweifungen sind dabei durchaus ernst gemeint, veranschaulichen
sie doch auf verschiedenen Ebenen die Mechanismen der Macht und ihre universelle
Relevanz.
Bald findet Nathalie
in der schönen, noch unerfahrenen Sandrine (Sabrina Seyvecou), die am Ausschank
der Nachtbar arbeitet, eine gelehrige Schülerin und begierige Komplizin
im Bestreben, „Arsch und Grips zu verwenden, um nach oben zu kommen.“ Nur knapp
umreißt Brisseau die sozialen Hintergründe dieser Entscheidung. Wichtiger
ist ihm die Analyse des weiblichen Lustempfindens als Mittel der Täuschung.
Denn gerade die irritierende Undeutlichkeit weiblicher Sexualität zwischen
gesellschaftlich tabuisierter Lust, vorgespielten Orgasmen und Definitionslücken
im Spektrum erfahrbarer Befriedigung begünstigt den beruflichen Aufstieg
der beiden Frauen in der Hierarchie eines großen Konzerns; und sorgt auch
beim Zuschauer für nur schwankende Gewissheiten. Sich entziehen, das Verlangen
des anderen kontrollieren und vor allem den Gefühlen entsagen: Das sind
die als „Männergebrauchsanweisung“ apostrophierten Grundsätze der
Heldinnen, die sich nach einem konzentrierten sexuellen Selbstfindungstraining
daran machen, die Mächtigen zu verführen und dabei moralische Grenzen
zu überschreiten.
Dabei geraten sie
allerdings zielstrebig an den falschen: Christophe (Fabrice Deville), der gleichermaßen
machtbesessene wie skrupellose Sohn und Erbe des todkranken Firmeninhabers,
ist ein moderner Caligula, der seit dem traumatisch erfahrenen Tod seiner Mutter
in de Sadeschen Sätzen spricht und dabei hemmungslos Menschen ausbeutet.
Auf seiner Suche nach absoluter Gesetzlosigkeit geht es ihm nicht allein um
ein teuflisch amoralisches Spiel mit der sozialen Ordnung, sondern um nichts
weniger als den hybriden Versuch, Gott und seine Schöpfung herauszufordern.
Seine genußsüchtige Selbstbezogenheit kennt weder Gewissen noch böse
Tat und konstatiert trotzdem kalt: „Wahre Befreiung erlebt man selten.“
Bevor Jean-Claude
Brisseaus moralisches Lehrstück zu seinem läuternden Ende findet,
schickt er seine weiblichen Figuren durch eine emotionale Hölle. Während
der erste Teil von „Heimliche Spiele“ die verzweigte sexuelle Spannung seiner
höchst dichten Atmosphäre benutzt, um ein raffiniertes Spiel zwischen
weiblicher Lust, sexuellem Begehren und damit unvereinbaren gesellschaftlichen
Tabus zu inszenieren, wird der dadurch mögliche Blick auf die sozialen
Mechanismen der Macht in der zweiten Hälfte des Films zunehmend abgelöst
von einem mit viel Pathos überhöhten, ins Mythische gesteigerten Herrscherkult.
Auch wenn darin eine weltanschauliche Logik mit allseits bekannten Folgen liegt,
mag man sich diesem Konstrukt bis zu seinem orgiastischen Ende nur mit zwiespältigen
Gefühlen anvertrauen. Zu viel geschichtliche Wahrheit liegt darin, die
vom dramaturgischen Spagat, den der Film sich auferlegt hat, nur plakativ eingeholt
werden kann.
Wolfgang Nierlin, 10. Januar 2004
Heimliche
Spiele
Frankreich
2002 - Originaltitel: Choses secrètes - Regie: Jean-Claude Brisseau -
Darsteller: Sabrina Seyvecou, Coralie Revel, Roger Mirmont, Fabrice Deville,
Blandine Bury, Oliver Soler, Viviane Theophilides - FSK: ab 16 - Länge:
117 min. - Start: 4.12.2003
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