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Der politische Gefangene Yusuf wird nach einem Jahrzehnt
im Hochsicherheitstrakt entlassen. Mit Lungentuberkulose im Endstadium. Wie
geht er damit um? Er sitzt jetzt im heimatlichen Bergnest. Bei seiner Mutter.
Bei seinem Kumpel von früher. Inmitten der grandiosen Berglandschaft nahe
der türkisch-georgischen Grenze. Lamentiert wird schon deswegen nicht,
weil Yusuf das Reden verlernt hat. Zu Wort aber kommen auf ihre Weise Wolken,
Berge, Täler, aber auch die kleinen Handgriffe und Begegnungen des Alltags,
ein Blick, eine gescheiterte Kommunikation mit einem kleinen Jungen und ein
Kinderdudelsack, der heilgemacht werden will. Die Kamera fängt Yusufs Blicke
auf und nimmt dann seine Position ein. Ein intensives Bilder-Leben ist die Folge.
Die Natur hat das Sagen. Der Herbst lebt. Und das stimmt uns tröstlich.
Denn was man jahreszeitlich bedingt als grandiose Sterbehilfe abtun könnte
– Schnee fällt, das Leichentuch, jaja -, stimmt zwangsläufig optimistisch,
denn was folgt auf Herbst und Winter? Richtig! - Der Film startet im März.
Der Herbst beschreibt einen Zustand, den Posthochsicherheitstraktzustand.
Mit seinen Folgen von Autismus und Unangepasstheiten, Sichverkriechen und Sichausliefern.
Yusuf kann sich nicht artikulieren, auch nicht gegenüber der jungen Georgierin
Eka (Megi Kobaladze), die bei den Türken anschaffen geht und dann wieder
nicht, weil sie nur Blicke für unseren traumatisierten Studenten hat. Nach
der Knastzeit wäre jetzt der Moment da, Kontakt aufzunehmen. Aber nichts
da. Eka resigniert. Sie windet sich durch das Betonlabyrinth der Grenzanlage,
sehnsuchtsvolle Blicke zurückwerfend. Yusuf lässt sich auf einer Landebrücke
im
aufgewühlten Schwarzen Meer von
meterhohen Brechern überschütten. Welch Leid! Welch Leidenschaft!
Welch Melodram! – Das muss man gesehen haben! Das sind Film-Eindrücke,
die vertikal in einen hineingehen! Kaum zu glauben, dass "Herbst"
Özcan Alpers ersten langer Spielfilm und Megi Kobaladzes erster Filmauftritt
ist.
Das „Herbst“-Gemälde ist unterfüttert mit Aussagen über
die Vergangenheit (die frühen neunziger Jahre nach dem Putsch der türkischen
Militärs in den Achtzigern) und die orientierungslose Gegenwart – wohlgemerkt
nicht per Dialog, sondern medial perfekt durch Einblendungen von Dokumentaraufnahmen
(Studentendemos, Knüppel, Wasserwerfer, vollgepferchte Knastzellen) einerseits
und von Spielfilmszenen aus dem Fernsehen andererseits. „Onkel Wanja“, die sowjetische
Tschechowverfilmung von 1971: was bleibt in einer kranken Gesellschaft als Ziel?
„Die Aussicht auf ein schöneres Leben“. Gott, ja ich weiß. Yusuf,
der Student mit den großen Aussichten, er wird jedenfalls zu Grabe getragen.
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.konkret.de
Herbst
Deutschland
/ Türkei 2008 - Originaltitel: Sonbahar - Regie: Özcan Alper - Darsteller:
Onur Saylak, Megi Kobaladze, Raife Yenigül, Serkan Keskin, Nino Lejava,
Sibel Öz - Prädikat: wertvoll - FSK: ab 6 - Fassung: O.m.d.U. - Länge:
105 min. - Start: 13.5.2010
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