zur startseite
zum archiv
Hippolytes
Fest
Die befreiende Macht des Rituals: in einer
der seltenen Rückblenden, die den Spielort, das Restaurant »Au petit
Marguery«, verlassen, läuft der Chef als kleiner Junge auf einem
Skateboard durch die Reihen einer Studentendemo; es ist der rituelle Moment
der Omnipotenz, da die erste Reihe des Zuges die Arme verschränkt. Der
kleine Skateboardfahrer teilt die Euphorie des öffentlichen Raums, auch
wenn sein Ritual ein anderes ist.
Wer sich fühlen will, gehorcht dem
Essens- und Familienritual. Die Großfamilie ist offen für Gleichgesinnte.
Wir treffen daher beim Schmausen eine exemplarische Hure an, die freilich ein
wenig überdeterminiert ist (schwarz und schwanger). Geladen ist auch ein
Clochard aus der Nachbarschaft, der allerdings arg überzeichnet ist und
grauenhaft klischeevoll chargiert. Aber grade deswegen ist der professionell-perfekte
Auftritt des Semantologieprofessors (Féodor Atkine) völlig deplaziert.
Der Vertreter der linguistischen Wissenschaft wird in einer exquisiten Sequenz
des Films hochdramatisch des »Petit Marguery« verwiesen. Dem Professor
bleibt die Kunst fremd, die in diesem kleinen Raum geübt wird.
Welche Potentiale ruft die Farbe rot ab?
Blut tropft aus der Nase; Kleid und Haar der Chefin flammen rot; Mitterand steht
am Grab von Jean Jaurès, die rote Blume in der Hand. Die schöne
Geste, die einende Farbe, die stimulierende Eloquenz – sie brauchen Öffentlichkeit
und Platz, sich zu entfalten und wahr zu werden. Da Rhetorik bei uns als Wert
unbekannt, die Zeremonie kirchlich oder militärisch definiert ist, die
Geste allenfalls als philosophische Kategorie akzeptiert ist, kommt uns »Hippolytes
Fest« spezifisch französisch vor. Weswegen ich den Film liebe. Unangestrengt,
bildhaft und plausibel macht er das kleine Restaurant zur Bühne, auf der
der Alltag den Platz einnimmt, den die großen Entwürfe hinterlassen
haben. Wir kennen die Szenerie aus Filmen von Resnais, Rohmer, Rivette. Regisseur
Bénégui hält sich dank seines autobiografischen Ansatzes
davon frei, etwas oder jemanden vorzuführen. Er gräbt in der Erinnerung,
sucht und findet unvermutet, wie zufällig, eine Wahrheit – so wie die Kamera
des Film-im-Film: die Videokamera, die Polaroidkamera. Sie fokussieren, was
wir in der Szenentotale nicht sahen: ein Paar, einander abgewandt, ernst, nicht
ins Spiel gebracht. Oder den Bruder allein und unglücklich bei der zweiten
Flasche Wein – ein Judas, dem am selben Ort die Zukunft als Leiter der Bankfiliale
bevorsteht.
Was fixiert wird, reizt dazu, wieder in
Fahrt gebracht zu werden. Und wieder nimmt die Filmkamera die lange Fahrt an
der Festtafel vorbei auf, musikalisch erhöht durch einen Chanson (Trenet)
oder einen mönchischen Chor. Zuverlässig zieht sie sich dann wieder
in die kleine Küche zurück, groß und schnell den Bewegungen
der hyperaktiven Köche folgend. Ein wohlabgemessenes Bildzeremoniell, eine
respektvolle Hommage an die Eltern des Autors (sie haben das Menu dieses Diners
komponiert) und gleichzeitig die Befreiung von elterlicher Autorität: Der
professionellen Kochkunst ebenbürtig ist das chef d’oeuvre, das dieser
Film ist.
Ein Abgesang, leider, das große
Finale des Familienbetriebs. Der letzte Abend, das letzte Essen vor der Umwandlung
in eine Bankfiliale. Das »Au petit Marguery« hat es wirklich gegeben,
in Paris, Avenue Trudaire; es gehörte den Eltern des Regisseurs, der über
das autobiografisch beglaubigte Schlußmenu so viel zu sagen hatte, daß
er nicht nur 1400 Romanseiten verfaßte (Au petit Marguery), sondern diesen
Roman auch gleich selbst verfilmte. Wobei ihm das Kunststück gelang, die
eigene Literatur zu vergessen und stattdessen eine Flut wahrer, weil persönlich
autorisierter Bilder zu bändigen und in kulinarische Ordnung zu bringen.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Konkret 07/1996
Hippolytes Fest
AU PETIT MARGUERY
Frankreich - 1995 - 94 min. - Verleih: TiMe, Polyband (Video)
- Erstaufführung: 25.7.1996/25.3.1997 Video - Produktionsfirma: Téléma/Margouric/France
2 Cinéma/Le Studio Canal Plus/CNC/Canal Plus - Produktion: Charles Gassot
Regie: Laurent Bénégui
Buch: Laurent Bénégui, Michel Field, Olivier Daniel
Vorlage: nach einem Roman von Laurent Bénégui
Kamera: Luc Pages
Musik: Angélique Nachon, Jean-Claude Nochon
Schnitt: Jean-Luc Gaget
Darsteller:
Stéphane Audran (Joséphine)
Michel Aumont (Hippolyte)
Alain Beigel (Daniel)
Marie Bunel (Anne-Françoise)
Thomas Chabrol (Thomas)
Vincent Colombe (Paolo)
zur startseite
zum archiv