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Die Höhle der vergessenen Träume
Die Pfeifentöne der Vergangenheit
30.000 Jahre, wie in einer Zeitkapsel konserviert:
Kein Wunder, dass die Chauvet-Höhle in Frankreich Werner Herzog zu hochfliegenden
Gedanken trieb
Werner Herzog hat ein Herz für Alligatoren. Schon
in seinem letzten Spielfilm Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (2009) gab es einige denkwürdige Reptilienmomente;
in einer ausgesprochen psychedelischen Form von Mimesis nahm er für eine
kurze Einstellung sogar die subjektive Blickposition eines Alligatoren als Augenzeugen
eines Verkehrsunfalls ein.
Im Epilog des Dokumentarfilms Die Höhle der vergessenen Träume greift Herzog seine neueste Obsession nun wieder auf,
wenn er in einem Nachgedanken von der Chauvet-Höhle in Südfrankreich
noch einmal zu einem mit Reaktorkühlwasser beheizten Tropenpark abschweift,
in dem Albino-Krokodile geboren werden. Doch es steckt eine inhärente Logik in der Reptilienwahrnehmung.
Auch Herzog betrachtet den Menschen als Außenstehenden
– wie ein Alien, der über die absonderlichsten Verbindungen permanent einen
Bezug zur Welt herzustellen versucht. Extreme Orte und menschliche Grenzerfahrungen
haben Herzog schon immer fasziniert, er ist unermüdlicher Forscher und
verstrahlter Weltdeuter.
Die Chauvet-Höhle in Frankreich liefert reichlich
Anschauungsmaterial für das mythische Rauschen, das Herzogs Off-Kommentare
begleitet. 1994 legten Paläontologen einen Zugang zu der Höhle frei,
die sich als einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Funde der Neuzeit herausstellen
sollte. In der 8.000 Quadratmeter großen Grotte stießen die Forscher
auf Knochen und gut erhaltene Höhlenzeichnungen, deren Alter mithilfe der
Radiokarbonmethode auf über 30.000 Jahre datiert werden konnte. Die Wandmalereien befanden sich in einem nahezu unberührten
Zustand. Als erster Filmemacher erhielt Herzog die Genehmigung,
diese Zeitkapsel der Menschheitsgeschichte zu betreten. Um die Räumlichkeit
der Höhle und die Textur der Malereien filmisch erfassen zu können,
drehte der Technikskeptiker Herzog erstmals in 3D, was der Dunkelheit eine beeindruckende
plastische Tiefe verleiht. Besonders schön tritt im Film das brillante
Funkeln der Mineralablagerungen an den Wänden hervor.
Der archaische Ort treibt Herzog erwartungsgemäß
zu hochfliegenden Gedanken. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern sucht er in
der Höhle etwas, das sich nicht mit Geräten vermessen lässt,
„die Seele des modernen Menschen“, wie er es nennt. Wenn Herzog die Millionen
von erfassten Daten mit dem Telefonbuch von Manhattan vergleicht, schließt
er mit der krypto-mystischen Bemerkung, dass diese Zahlen letztlich nichts über
die Träume der Urmenschen verraten. Schließlich unterlegt er seine
Bilder sogar mit dem „Herzschlag der Höhle“, während die Kamera minutenlang
über die Zeichnungen schweift.
Herzog ist längst eher Hobby-Anthropologe als Filmemacher.
Er lässt sich in Daten und Anekdoten treiben, um an ungeahnte Ufer zu gelangen.
Diese Neugier verbindet ihn mit einem Kuriosum wie dem deutschen Archäologen
Wulf Hein, der beruflich mit prähistorischen Werkzeugen und Techniken experimentiert.
In Die Höhle der vergessenen Träume spielt Hein im Bärenfell auf einer Knochenflöte
die amerikanische Nationalhymne nach, ein hochgradig bizarrer Moment, der durch
Herzogs Reptilienblick wieder schlüssig wird: Der Bärenfellmann stellt
eine Verbindung in die Vergangenheit dar, während die Albino-Krokodile
ein Bild aus der Zukunft transportieren. So, scheint der leidenschaftliche Pessimist
Herzog zu raunen, sieht unser Vermächtnis an kommende Generationen aus.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen im: Freitag
Die Höhle der vergessenen Träume
Frankreich / Kanada / USA / Großbritannien / Deutschland 2011 - Originaltitel: Cave of Forgotten Dreams - Regie: Werner Herzog – Mitwirkende: Werner Herzog - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 6 - Länge: 90 min. - Start: 3.11.2011
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