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Das
Hohelied der Liebe
Von Bressons erstem Film LES AFFAIRES
PUBLIQUES (1939) sind keine Kopien mehr erhalten. Nach seinen Worten war es
ein »comique fou«: er behandelte drei Tage im Leben eines fiktiven
Diktators, der von dem Clown Beby gespielt wurde. LES ANGES DU PÉCHÉS
(Bressons zweiter Film, 1943, dt. Titel: Das
Hohelied der Liebe - die
fz-Redaktion) entstand in
Zusammenarbeit mit R. P. Bruckberger, der am Szenario mitwirkte, und Jean Giraudoux,
der die Dialoge schrieb. Der Titel wurde Bresson vom Produzenten aufgedrängt,
ursprünglich sollte er L'echange heißen - ein Verweis auf die in
der Konzeption enthaltene metaphysische Konstruktion.
Am Beginn des Films steht eine scheinbar
konspirative Aktion: die Schwestern des Dominikanerordens Bethanien bereiten
sich darauf vor, eine junge Frau, die an diesem Tag aus dem Gefängnis entlassen
wird, in den Orden aufzunehmen. Am gleichen Tag kommt Anne-Marie (Renee Faure)
zur Aufnahme in das Kloster. Sie fühlt sich von der Aufgabe der Betreuung
der Unglücklichen und Ausgestoßenen angezogen. Im Gespräch mit
der Priorin erfährt sie von einer angeblich »verlorenen Existenz«,
von Thérèse (Jany Holt). Anne-Marie besteht darauf, Thérèse
im Gefängnis zu besuchen und mit ihr zu sprechen. Dort wird sie Zeuge von
Thérèses Auflehnung gegen die Herrschaft und Gewalt eines Gefängnisses.
Bestärkt durch den Wahlspruch, den sie durch Los im Konvent gezogen hatte
- »Wenn Du das Wort, durch das Dich Gott einem anderen verbindet, vernommen
hast, sind alle anderen Worte nurmehr das Echo dieses einzigen« - wird
für sie die »Rettung« Thérèses zum Fixierungspunkt
ihres Denkens und Handelns. Am Tage ihrer Entlassung aus dem Gefängnis
stößt Thérèse Anne-Marie jedoch zurück - sie will
sich an dem rächen, der sie unschuldigerweise ins Gefängnis brachte.
Das Kloster, in das sie sich nach dem Mord flüchtet, dient ihr als Unterschlupf.
Der Konflikt zwischen Anne-Marie, die Thérèse belehren und erziehen
will, und Thérèse, die Anne-Maries Verhalten als Fessel und Zerstörung
ihrer Freiheit empfindet, ist unausweichlich. Instrument von Thérèses
Versuch, sich ihrer Betreuerin zu entledigen, ist die Katze der Subpriorin,
ein ambivalent besetztes Objekt der Zuneigung und des Hasses im Kloster. Thérèse
macht Anne-Marie auf die »besondere Zuneigung« der Subpriorin zu
ihrer Katze aufmerksam. Anne-Marie wirft die Katze empört aus dem Arbeitssaal,
worauf die Subpriorin Saint-Jean, die ihr ohnehin ablehnend und mißbilligend
gegenübersteht, sie im Konvent der Mißhandlung eines Tieres anklagt.
Anne-Marie antwortet mit dem Vorwurf, daß die Schwestern das Tier geliebkost
hätten. Die Buße, die ihr wegen dieser ungeheuerlichen Behauptung
auferlegt wird - die Füße ihrer Mitschwestern zu küssen -, weigert
sie sich auszuführen und wird deshalb des Klosters verwiesen. Später
findet man sie ohnmächtig im Klostergarten am Grab des Ordensstifters:
jede Nacht betete sie dort für ihre Rückkehr. Todkrank wird sie ins
Kloster gebracht. Es kommt zur letzten Konfrontation zwischen Anne-Marie, die
sterben, und Thérèse, welche die Polizei wegen des Mordes abholen
wird. Thérèse enthüllt Anne-Marie die wahren Beweggründe
ihres Aufenthalts im Kloster und sie äußert ihren Haß, sich
Anne-Maries besitzergreifender Werbung unterwerfen zu sollen. Anne-Marie erkennt
den Wunsch Thérèses, die immer einsam war, nach Freiheit und versöhnt
sich mit ihr. Thérèse spricht für die sterbende Anne-Marie
das Gelübde. Einer Schwester, sagt sie im Vorbeigehen, als sie von den
Inspektoren abgeführt wird: »Bis bald.«
LES ANGES DU PÉCHÉS ist
ein Film mit klassizistischer Bedeutungsdramaturgie und Symbolik. Bedeutungsdramaturgie
sowohl auf der Ebene der thematischen Konstruktion der Handlung wie in der symbolischen
Interpretation durch Inszenierung, Beleuchtung und Ausstattung. Die Konstruktion
stellt die beiden Hauptcharaktere antithetisch zueinander. Anne-Marie kommt
aus einer reichen Familie und tritt freiwillig, sogar gegen den Willen ihrer
Familie, ins Kloster ein - sie fühlt sich berufen. Freiwillig gibt sie
ihre Freiheit zugunsten der Unterwerfung unter die Regeln auf. Dem hellen Licht,
das sie umgibt, kontrastiert die dunkle, finstere Gefängniswelt der Thérèse.
Schon in diesem frühen Film ist die Montage und die Konfrontation von zunächst
nicht aufeinander Bezogenem eins der wichtigsten Artikulationsmittel Bressons,
freilich verdeckt durch die konventionelle Theaterdramaturgie. Thérèse,
dunkel im Gegensatz zur hellen Tracht der Novizin gekleidet, kommt aus Kalkül
ins Kloster. Für sie sind die Regeln nur eine unumgängliche Notwendigkeit
in ihrer Fluchtstrategie. In der Szene, in der Anne-Marie die »schwesterliche
Belehrung« erteilt wird, benutzt sie dieses Ritual im Gegensatz zu den
anderen Schwestern dazu, schmeichelnd Anne-Marie von der Berechtigung ihres
eigenwilligen Verhaltens zu überzeugen.
Aber die den ganzen Film durchziehende
Kontrastierung zweier Welten (hell-dunkel, arm-reich, Unschuld-Verworfenheit,
Determination-Freiheit) wird überspielt von der Identität beider Sphären,
die das hervorstechende Merkmal ist, wenn man den Film heute sieht. Die Identität
äußert sich in der Reglementierung, im Ritual. Gefängnis und
Kloster organisieren gleichermaßen Herrschaft über Menschen. In einer
der beeindruckendsten Sequenzen, deren visuelle Kraft Filme von Hawks ins Gedächtnis
ruft, erlebt Anne-Marie im Gefängnis die einzelne und einsame Revolte der
Thérèse. Von einer Aufseherin grob angetrieben,
muß sie den Wagen mit dem Essen für die Gefangenen schieben. Absichtlich
verschüttet sie die Suppe beim Ausschenken. Schließlich stößt
sie den Wagen mit den Töpfen die Treppe hinunter und versucht zu fliehen.
Automatisch, dirigiert von einer unsichtbaren Hand, schließen sich die
Gittertüren des langen, dunklen Ganges, den sie entlangläuft. Es gibt
kein Entrinnen. Sie kommt in Einzelhaft. Gleiche Situationen im Kloster: nicht
nur die langen Gänge mit den Zellentüren, die beklemmenden Schatten,
die auf den weißen Wänden liegen, die zahllosen Gitter in Türen,
Fensterkreuzen, Treppengeländern; sondern auch jene Regeln, die Unterwerfung
fordern. Anne-Marie muß alle Objekte, die ihr gehören und welche
sie mit der Außenwelt, ihrer Familie, ihrem früheren Leben verbinden,
abgeben, die Bilder verbrennen. Am Schluß werden die Klosterregeln und
das Ritual sogar selbst thematisch. Bis dahin hatte der Akzent noch auf der
Psychologie der beiden ineinander verstrickten Frauen, ihren Motiven und Absichten,
gelegen. Das Ritual des Gelübdes wird für beide Frauen zum Abschied
von ihren bisherigen Vorstellungen und Interessen. Für Anne-Marie zur Einsicht
in die Gewalt der Kontrolle, mit der sie Thérèse verfolgte, für
diese zur Erkenntnis ihrer Kälte und Einsamkeit. Beide lassen die frühere
Identität zurück und damit die Psychologie der Motive. Im Austausch,
der Übernahme von Anne-Maries Rolle durch Thérèse, wird dieser
Bruch vollzogen. Noch überdeckt von der moralisierenden Konstruktion, liegt
da bereits ein Anfang für Bressons spätere dezidierte Abkehr von aller
Psychologisierung. Seine Faszination durch die Strenge von Regeln, Ritualen
und Tterationen, die hier noch durch die symbolistische Thematik äußerlich
bleibt, bekommt erst in seinen späteren Filmen die Bedeutung eines ästhetischen
Mittels, einer Form: nämlich der Exploration der Wahrheit.
Die Schwäche von LES ANGES DU PÉCHÉS
liegt in der falschen Positivität des Schlusses, in der Vermischung von
Psychologie und Moral, und in der symbolisierenden Darstellung. Der Bruch am
Ende, der den beiden Frauen zur Erkenntnis über sich selbst verhilft, sie
zu einer Person macht, ist auch einer des Films selbst: die Lösung, die
Verständigung innerhalb der Regeln des spirituellen Kollektivs ist bloß
behauptet. Die Vermischung von Psychologie und Moral reduziert die Personen
auf Träger von Kategorien, Thesen, auf Exempel für eine Theorie. Das
gleiche widerfährt den Objekten der Welt, die Wände, Fenster, Gitter,
Treppen, Türen, der Regen, das Licht, die zur Symbolisierung der Innenwelt
der Personen hergerichtet werden, anstatt daß der Film ihnen zur Sprache
verhilft.
Jedoch geht LES ANGES DU PÉCHÉS
in der ästhetischen Arbeit über die Konstruktion weit hinaus. Diese
Arbeit ist mehr als bloßes Inszenieren der Handlungen. Sie vermeidet die
einfache Identifikation mit dem Blickwinkel der agierenden Personen. Bemerkenswert
ist besonders die Kameraarbeit: in der Bevorzugung ungewöhnlicher Einstellungen
verhindert sie die Reduktion der Bilder auf bloße Illustration von Thesen.
Sie ergreift nicht Partei für eine der handelnden Personen. Wenn Anne-Marie
wütend die Katze aus dem Arbeitsraum hinauswirft, nimmt die Kamera in einem
extrem niedrigen Winkel die Position der Katze ein, die zu Boden geschleudert
wird - sprachlos bezeichnet sie die Grausamkeit jener Wut. Häufig ist sie
über den Köpfen der Handelnden postiert -sie betrachtet das Geschehen
wie ein außenstehender Beobachter. Ein besonders deutliches Beispiel dieser
beobachtenden Einstellung ist der Mord der Thérèse. Sie wartet,
an die Wand gelehnt, vor der Tür des Mannes, an dem sie sich rächen
will, bis dieser die Tür öffnet. Die Kamera, auf halber Höhe,
bleibt immer auf sie gerichtet. Die Tür öffnet sich, der Schatten
des Mannes zeichnet sich an der Wand hinter Thérèse ab; sie drückt
den Revolver, den sie in der Hand hält, mehrmals ab, der Schatten gleitet
an der Wand herunter. Zu sehen ist nur das Wesentliche und Notwendige: Thérèse
und die Ausführung ihres Planes. Auch hier findet sich in psychologischer
Verkleidung ein Element des späteren Bresson, die Reduktion auf das Wesentliche
und die Einführung einer explorativen Perspektive.
Stefan Schädler
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Robert Bresson; Band 15 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1978, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags
LES
ANGES DU PÉCHÉS.
Das
Hohelied der Liebe
(Sündige Engel)
Engel
der Sünde [TV-Titel].
Frankreich
1943
Regie,
Buch: Robert Bresson, nach einer Idee von Pater R. P. Bruckberger; Dialoge:
Jean Giraudoux. - Kamera: Philippe Agostini. - Schnitt: Yvonne Martin. - Musik:
Jean-Jacques Grunenwald; »Salve Regina« gesungen von Irène
Joachim. - Ton: René Louge. - Sb: René Renoux. - Ra: Frédéric
Lictier. - D: Renée Faure (Anne-Marie), Jany Holt (Thérèse),
Sylvie (Priorin), Mila Parély (Madeleine), Marie-Hélène
Dasté (Mutter Saint-Jean), Yolande Laffon (Madame Lamaury, Anne-Maries
Mutter), Paula Dehelly (Mutter Dominique), Silvia Monfort (Agnès), Gilberte
Terbois (Schwester Marie-Josèphe), Louis Seigner (Gefängnisdirektor),
Georges Colin (Polizeichef), Geneviève Morel (Schwester), Christiane
Barry (Schwester Blaise), Jean Morel (Inspektor) Elisabeth Hardy/Andrée
Clément / Madeleine Rousset / Claire Olivier / Jacqueline Marbaux (Schwestern).
- Produktionsfirma: Synops. - Produzent: Roland Tual. - Produktionsleitung:
Dominique Drouin. - Format: 35 mm, sw. - Originallänge: 2628 m = 96 min.
3 sec. – Deutsche Länge: ca. 2400 m = 88 min.; Fernsehfassung: 2433 m.
- Uraufführung: 23.6.1943, Paris. – Deutsche Erstaufführung: 28.1.1949.
- TV: 16. 8.1969 (ZDF).
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