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Sozialsurrealismus
In ihrem beeindruckenden Spielfilmdebüt
"Home" erzählt die Schweizer Regisseurin Ursula Meier eine Parabel
mit Widerhaken und Isabelle Huppert.
Einfache Elemente in seltsamem Arrangement:
Eine Familie, ein Haus, eine Straße. Zug um Zug, Stück für Stück
baut Ursula Meier mit Hilfe ihrer Kamerafrau Agnes Godard daraus eine Parabel.
Eine Parabel, die nur deshalb funktioniert, weil jedes einzelne Teil eine eigene,
übers Funktionale hinausreichende Kraft hat. Hinausreichend, soll das heißen,
über eine Rolle im Fortgang dieser Geschichte. Hinausreichend über
die Bedeutung, die es fürs Ganze hat. Diese Einzelteile stellt der Film
hin, er sammelt sie ein, er lässt sie als Bruchstücke gelten, die
sich nicht einfach fügen.
Zum Beispiel: Ein Camping-Liegestuhl,
ein unbrauchbar gewordener Swimmingpool, ein Fahrrad auf dem Asphalt. Eine Kühltruhe,
eine Badewanne, ein Radio. Blicke, die man wirft wie Gegenstände. Durchs
Fenster, auf die Straße, über die Straße. Gegenstände,
die man den Blicken hinterher wirft, die Pausenbrote, über die ein Auto
fährt, aber man kann manches noch essen. Wege, abgeschnittene und neu gefundene.
Das Wasser, die Panik, ein Lachen, befreit und hysterisch. Wie nebenbei fängt
die Kamera am Ende eines Schwenks ein beinahe surreales Bild ein. Oder sie beginnt
eine Einstellung mit dem Blick auf Straßenarbeiterbeine in Knallorange.
Tüten, ein Tiefkühlhähnchen an der Wange, ein Mundschutz mit
Loch für die Zigarette. Der Blumenbikini von Judith, die aggressive Zuneigung
der Geschwister Marion und Julien, die tränenverquollenen Augen der Mutter,
gespielt von Isabelle Huppert.
Am Anfang weiß man nicht, wo man
ist. Ganz buchstäblich: Was ist das für ein Ort? Eine Autobahn, auf
der kein Auto fährt. Stattdessen spielt eine Familie Hockey auf dem Asphalt
und lässt alles, was zum Spiel gehört, hinterher einfach liegen. Und
neben der Autobahn das Haus, in dem die Familie lebt: Vater, der morgens zur
Arbeit fährt (man weiß nicht wohin, man weiß nicht was, abends
kehrt er wieder); Mutter, die Wäsche wäscht, am einen Tag weiß,
am anderen bunt; erwachsene Tochter, die jeden Tag auf der Campingliege neben
der Autobahn Hardrock hört; die pubertierende Tochter, die später
zu Hypochondertum neigt; und ihr jüngerer Bruder, dessen Freunde der einzige
Sozialkontakt scheinen, den die Familie in der Welt hat.
Man weiß am Anfang auch nicht, in
welches Genre der Film gehört. Alles beinahe postapokalyptisch hier. Oder
ein Horrorfilm? Eine Familienkomödie? Absurdes Theater? Sozialsurrealismus?
Keineswegs schüttelt sich das alles bis zum Ende ganz eindeutig zurecht. Man lernt nur: Wir alle kommen hier, aus dieser
Situation, bis zum Ende nicht raus. Stattdessen bricht etwas ein in die Idylle
am äußersten Rand der Gesellschaft. Die Autobahn wird nach zehn Jahren,
die der Weiterbau brachlag, doch noch für den Verkehr geöffnet. Entsetzte
Blicke werden aus dem Fenster geworfen. Die Tochter zeigt den hupenden LkW-Fahrern
den Finger und setzt, um ihren Hardrock zu genießen, nun Kopfhörer
auf.
Mutter und Vater wollen die Kinder, sich
selbst, die Familie, gegen dieses Eindringen des Außen, dieses aggressive
Vorbeifließen der Gesellschaft isolieren. Auch daraus macht Ursula Meier,
wie aus so vielem in diesem Film, ein Szenario blanker Buchstäblichkeit.
Ja, "Home" ist eine Parabel mit möglicherweise sogar recht einfacher
Botschaft. Sie erzählt von Innenwelt und Außenwelt und vergeblichem
Abschottungsversuch. Aber in beinahe jedem Bild steckt ein Widerhaken. Der verblüffendste
dieser Widerhaken ist die Komik des Films. Über alles kann man, so bitter
es ist, fast immer auch lachen. "Home" ist ein Film, der sich nach
Ansicht so ohne weiteres nicht von der Haut schrubben lässt.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: www.perlentaucher.de
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Schweiz
/ Frankreich / Belgien 2008 - Regie: Ursula Meier - Darsteller: Isabelle Huppert,
Olivier Gourmet, Adélaïde Leroux, Madeleine Budd, Kacey Mottet Klein,
- Länge: 97 min. - Start: 25.6.2009
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