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Ich fühl' mich Disco
„Kann ich nicht doch lieber ein Klavier haben?“, fragt der moppelige
Florian seinen schwergewichtigen Vater Hanno, als der sein „Simson“-Moped reaktiviert
und an seinen Sohn „vererben“ will. Damit hatte der Vater vor vielen Jahren,
als er noch in weiße Disco-Anzüge passte, schließlich seine
geliebte Monika abgeschleppt! Unmittelbar darauf bestätigt sich für
Florian durchaus schmerzhaft, dass er eher nicht in den Schuhen des Vaters laufen
wird. Wäre da nicht seine Mutter Monika, mit der er ausgelassen seine Liebe
zur Musik teilt, und die auch sonst zwischen den beiden Männern vermittelt,
es stünde viel mehr Ärger ins Haus! Denn Hanno ist ein harter Brocken,
der zwar freundlich sein kann, aber meistens lieber die harte Schale um seinen
weichen Kern legt. Hanno arbeitet als Turmspringtrainer mit dem jungen Talent
Radu und geizt auch hier mit Lob. Doch dann bringt ein Schicksalsschlag das
fragile familiale Gefüge aus dem Gleichgewicht, als Monika einen schweren
Schlaganfall erleidet und ins Koma fällt. Fortan müssen Vater und
Sohn ohne vermittelnde Mutter damit klarkommen, dass Florians Pubertät
für beide noch so manche Überraschung parat hält. Als Florian
in der Schwimmhalle im Aufwärmbecken „geparkt“ wird, wo er nach Hannos
Aussage den wenigsten Schaden anrichten kann, verguckt er sich in den Turmspringer
Radu, der sich überraschenderweise auf Florian einlässt.
Axel Ranisch skizziert diese neugierig-schwule Annäherung sehr
sensibel als körperliches Abenteuer, verbunden mit gemeinsamem Umherschweifen
zur Erkundung der Lebenswelten. Als der angetrunkene Hanno seinen Sohn schließlich
schlafend im Bett mit Radu überrascht, gerät der sonst scheinbar so
selbstsichere Macho an seine Grenzen und braucht dringend Beistand in Erziehungsfragen.
Alkohol ist da nur noch bedingt eine Lösung. Zum Glück gibt es „Neo“-Schlagersänger
wie Christian Steiffen, dessen Songs, etwa „Sexualverkehr“, eingangs schon Mutter
und Sohn begeisterten. Weil sich der Film trotz seines geringen Budgets einem
„Magischen Realismus“ verpflichtet fühlt, steigt Steiffen gewissermaßen
als Posterboy direkt von der Wand des Jugendzimmers in den Film, um Hanno ein
paar dringend benötigte Tipps zu geben.
„Ich fühl mich Disco“ kreist um das Spannungsverhältnis
zwischen den Mühen und Enttäuschungen des Alltags und den eskapistischen
Freuden einer trivialen Überhöhung. Ranisch inszeniert dieses Spannungsverhältnis
potentiell durchlässig; er erweckt die Mutter im Krankenhaus für empathische
Augenblicke zum Leben und macht den Schlagersänger sehr konkret zum Vertrauten
des Vaters in Erziehungsfragen. Über Bande gespielt schaut Rosa von Praunheim,
Ranischs ehemaliger Lehrer an der Filmhochschule „Konrad Wolf“, im Film vorbei
und wirbt en passant für eine teilnehmende Beobachtung beim Analverkehr. Was Hanno
zunächst sprachlos macht – und ihn anschließend, in einer unglaublichen
Sequenz, beim gemeinsamen Abendessen mit Florian und Radu in einen Tsunami der
Toleranz verwandelt, der den Jungs vorauseilend alle Freiheiten einräumt,
von denen zumindest Radu gar nicht so recht weiß, ob er sie will.
Trotz solch komischer Kapriolen überfordert der Film seine schwergewichtigen Protagonisten nicht; er zeigt vielmehr durchaus schmerzhaftes Einander-Verfehlen und Rückschläge. Aber – und dies ist die größte Leistung des Films – er denunziert seine mehr als einmal überforderten Figuren auch nicht, sondern zeichnet ihre allmähliche Annäherung über die Erfahrung des Verlustes mit großer Empathie. Der Vater muss lernen, seinen Sohn so zu akzeptieren, wie er ist: mit seinen Schwächen und Träumen. Im Gegenzug darf er selbst seine Schwäche und Überforderung zeigen. Wenn am Schluss die lebenserhaltenden Maschinen im Krankenhaus abgestellt werden, können sich Vater und Sohn auf Augenhöhe gegenseitig unterstützen. Dass das Leben „nicht immer nur Pommes und Disco“ ist, wie Christian Steiffen singt, kann als ausgemacht gelten. Manchmal muss es eine „Flasche Bier“ sein, die durchs Leben hilft.
„Ich fühl mich Disco“ ist einer der schönsten deutschen Filme des Jahres und erinnert, nicht nur aufgrund seiner reflektierten Affinität zur Trivialität des Schlagers, an die unverstellt ehrliche Zärtlichkeit, mit der sich einst Rainer Werner Fassbinder dem kleinbürgerlichen Milieu näherte.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst 22/2013
Ich fühl mich Disco
Deutschland 2013 - Produktionsfirma: Kordes & Kordes Film - Produktion:
Alexandra Kordes, Meike Kordes - Regie: Axel Ranisch - Buch: Axel Ranisch -
Kamera: Dennis Pauls - Schnitt: Milenka Nawka, Guernica Zimgabel - Darsteller:
Frithjof Gawenda (Florian Herbst), Heiko Pinkowski (Hanno Herbst), Christina
Grosse (Monika Herbst), Robert Alexander Baer (Radu), Talisa Lilli Lemke (Nele
Förster), Christian Steiffen (Christian Steiffen), Rosa von Praunheim (Rosa
von Praunheim), Petra Hartung (Cheftrainerin Heike Förster), Karim Cherif
(Partisanenkämpfer), Guido Schikore (UN-Blauhelm-Soldat) - Länge:
98 (24 B./sec.) / 94 (25 B./sec.) Minuten - Verleih: Salzgeber & Co. Medien
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