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Ich seh, Ich seh
Mami, wer bist du?
Eine bürgerliche Horrorvision aus Österreich
Lieblose Mütter und ihre derangierten Zöglinge sind ein
beliebtes Sujet des Horrorfilms. "Psycho".
"Carrie". "We need to talk about Kevin". Die
Furcht vor Zurückweisung und Liebesentzug in Verbindung mit einem Terror,
der sich im Herzen der Familie eingenistet hat, ist eine typisch bürgerliche
Angstvorstellung. Konsequenterweise hat das österreichische Autoren-Duo
Veronika Franz und Severin Fiala diesen Horror in seiner zweiten gemeinsamen
Regie-Arbeit "Ich seh, Ich seh" (nach einer wirklich hinreißenden
Dokumentation über die geniale Rampensau Peter Kern) in eine Arthouse-Form
übertragen, die visuell und atmosphärisch große Ähnlichkeiten
mit den Dramen Michael Hanekes aufweist. Wie der österreichische Filmemacher
sezieren Franz und Fiala bürgerliche Wertvorstellungen auf brutalstmögliche
Weise.
Im Mittelpunkt von "Ich seh, Ich seh" steht ein geschmackvoll
eingerichtetes Landhaus. Klare Formen, gedeckte Farben, klassisch-modernistisches
Design: Die matte Unterkühltheit des minimalistischen Interieurs deutet
bereits auf das defizitäre Innenleben seiner Bewohner hin. Ein US-Kritiker
bemerkte treffend, das Haus wirke, als hätte es ein Psychopath eingerichtet.
Tatsächlich erinnern die unscharfen, großformatigen Bilder in den
Wohnräumen an Geisterfotografien.
Das Haus steht im krassen Kontrast zur blühenden Natur vor der
Tür. Die Eröffnungseinstellungen täuschen eine Idylle vor, die
hinter der perfekten Oberfläche keinen Zweifel an ihrer Abgründigkeit
lassen: Ruth Leuwerik und ihre Apfelbäckchen-Kinder singen "Guten
Abend, gute Nacht ..." in die Kamera, es ist eine Szene aus dem Heimatfilm
"Die Trapp-Familie", über deren heile Welt ja ebenfalls ein Grauen
(die Nationalsozialisten) seine Schatten warf. Und auch Brahms Wiegenlied ist
eher dazu geeignet, Alpträume zu bereiten (Freddy Krueger!)
als einen gesunden Schlaf.
Ein Schnitt überträgt diese unbehagliche Dialektik von Idylle
und Schrecken in unschuldige Kindheitserfahrungen: Die Zwillingsbrüder
Lukas und Elias toben in den Feldern, sie springen über einen moorigen
Waldweg, der sie direkt in eine dunkle Höhle führt. Auf dem schwarzen
Waldsee (noch so eine sprechende Metapher) paddelt Lukas dann alleine herum,
den Namen seines Bruders rufend.
Die suggestive Exposition ist fast schon wieder vergessen, als die
Mutter aus dem Halbdunkel die Szene betritt. Großgewachsen und schlank
ist sie, ihr Gesicht mit frischen Bandagen verhüllt. Der Schock über
ihre gespenstische Erscheinung weicht bald einem kindlichen Misstrauen. Die
resolute Art der Mutter (offenbar ein Star im österreichischen Fernsehen),
die nach einer Schönheitsoperation auch eine innere Veränderung vollzogen
zu haben scheint, erhärtet den Verdacht der Jungen, dass sich eine fremde
Frau in ihr Heim eingeschlichen hat. Unter der Bettdecke tuschelnd beginnen
sie, die Identität der Mutter infrage zu stellen.
Franz und Fiala scheuen dabei nicht plakative Bilder. Beim Fragespiel
"Wer bin ich?" schafft es die Mutter nicht, sich selbst zu erkennen.
Die Frau ist gewissermaßen aus ihrer Mutterrolle gefallen und wird gegenüber
ihren Kindern sogar handgreiflich. Lukas straft sie mit völliger Missachtung.
Elias’ Bitte, Lukas möge sich für irgendetwas entschuldigen, nur damit
diese Frau sich wieder wie eine Mutter verhält, ignoriert der Bruder.
"Ich seh, Ich seh" beschreibt den Horror des Nicht-Erkennens. Wie in Georges Franjus psychologischem Klassiker "Augen ohne Gesicht" sind die Augen der Frau (Susanne Wuest) der einzige Zugang zu ihrer Psyche. Die Unerträglichkeit ihres Blicks erwischt Lukas beim heimlichen Spähen durch den Türspalt: Er ist blutunterlaufen, leer – und böse.
Franz und Fiala bedienen sich etablierter Horrorbilder zwischen Traum
und Realität: das amorphe Gesicht der Mutter im Wald in einem irren Zeitraffer-Zucken.
Das Aufschneiden ihres Bauches, aus dem statt Blut riesige Kakerlaken hervorquellen.
Eine Kamera, die sich wie in "Shining"
geisterhaft durch die Räume der Villa bewegt, als hätte sich eine
immaterielle Macht in den vier Wänden festgesetzt.
"Ich seh, Ich seh" überschreitet dabei niemals die Grenzen der Metaphysik, sondern bleibt einem Milieu verhaftet, das aus den Filmen Ulrich Seidls (mit dem Franz verheiratet ist) und Michael Hanekes bestens vertraut ist. Horror entspringt im österreichischen Kino einer höchst ambivalenten Mentalitätsgeschichte und hat seinen Platz eher im Arthouse-Kino gefunden (sieht man einmal von Andreas Prochaskas traditionsbewusstem "In 3 Tagen bist du tot" ab, der den klassischen Slasher-Film in die oberösterreichische Mundart übersetzte). In Hanekes "Funny Games" quälten zwei Jugendliche in blütenweißen Tennis-Outfits ohne erkennbares Motiv eine wohlsituierte Mittelstandsfamilie. Der sadistische Genuss, mit dem sich die beiden Eindringlinge an bürgerlichen Moralvorstellungen abreagierten (und sie gleichzeitig konterkarierten), brachte einige Gewissheiten über die friedfertige österreichische Volksseele ins Wanken. Und Seidl förderte erst kürzlich mit "Im Keller" die abgründigen Obsessionen und kleinbürgerlichen Perversionen seiner Landsleute zutage.
"Ich seh, Ich seh" zeigt ebenfalls deutlich, dass der wahre Austro-Horror im Verdrängen einer auf Status und Ansehen bedachten Mittelstandsgesellschaft lauert. Denn was hinter den Bandagen der Mutter schließlich zum Vorschein kommt, ist noch viel unheimlicher als alles, was man sich – durch die Augen der Jungen – vorgestellt hätte: eine makellose, artifizielle Schönheit. Der Horror von "Ich seh, Ich seh" nimmt hier allerdings erst seinen Anfang.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Die Zeit Online
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Ich seh, Ich seh
Österreich 2014 - 99 min. - Regie: Severin Fiala, Veronika Franz - Drehbuch:
Severin Fiala, Veronika Franz - Produktion: Ulrich Seidl - Kamera: Martin Gschlacht
- Schnitt: Michael Palm - Musik: Olga Neuwirth - Verleih: Neue Visionen - FSK:
ab 16 Jahren - Besetzung: Susanne Wuest, Elias Schwarz, Lukas Schwarz, Ulrike
Putzer, Michael Thomas - Kinostart (D): 02.07.2015
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