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if...
Das Manifest
des Widerstandes
„Wer einmal
richtig schießt, im richtigen Moment, kann die Welt verändern“, erklärt
der Schüler Mick Travis seinen Freunden seine erwachte Lust am Widerstand.
Hoppla, hier
redet jemand von einer Revolution als wäre sie ein reiner Akt. Eine derartige
Revolutionsverherrlichung hört und sieht man selten. Allenfalls liest man
davon noch in marxistischen Lehrbüchern. Deshalb ist es nicht verwunderlich,
dass das Schuldrama „if…“ des britischen Regisseurs Lindsay Anderson aus dem
Jahre 1968 ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Ein wenig zu sehr. Doch so
ist das nun einmal in diesen postmodernen Zeiten mit ihrem Hang, die Erklärungen
der Welt der Beliebigkeit zu überlassen: Ideologisches gilt als verpönt.
Das betrifft besonders die kommunistische Revolutionsideologie. Zu gründlich
war die Abrechnung mit dem Kommunismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Mildere Urteile sind deshalb heute nicht mehr massentauglich zu verkaufen, weil
dafür die Verbrechen viel zu blutig waren, die Pol Pot, Stalin oder Mao
im Namen des Kommunismus begangen hatten.
Fragt sich nur,
ob der Absturz dieses Films – zumindest außerhalb Großbritanniens
- in den Schlund der Vergessenheit berechtigt ist. Denn Filmbesprechungen zu
„if…“ findet man so oft wie einen Bernstein im Sand des Westerlander Strandes.
Der Plot in „if…“ ist zunächst ähnlich angelegt wie in vielen anderen
Schulfilmen wie zum Beispiel „Another Country“, „Die Himmelsstürmer“ oder
zuletzt „Evil“: Schauplatz der Handlung ist, wie meistens üblich, ein Eliteinternat.
Dieses Mal in England. Dort haben die Schüler so gut wie keine individuellen
Entfaltungsmöglichkeiten. Das Wichtigste sind die traditionellen Regeln
und Hierarchien und die privilegierten Primaner überwachen als Präfekten,
dass jeder die Regeln auch einhält. Die Prügelstrafe ist dabei im
Erziehungspreis mitinbegriffen. Kameradenerziehung der brutalen, ja der sadistischen
Art, die von den Lehrern geduldet wird. Doch in „if…“ gibt es zum ersten und
einzigen Mal kein Happy End, keine Hoffnungsschimmer und auch keine Flucht der
Opfer. Denn drei unangepasste Schüler, die Unterprimaner Mick, Johnny und
Wallace, wollen nach einer Kette von Bestrafungen diesen viel zu hohen Erziehungspreis
an ihre Peiniger nicht mehr bezahlen. Erfüllt von ideologischen Freiheitsbegriffen,
greifen sie während eines Tages der offenen Tür zu den Waffen und
richten unter dem Schulestablishment ein Gemetzel an, dessen Ausgang offen bleibt.
Was ist das Besondere
daran? Das Besondere ist die Revolutionshypothese, die Lindsay Anderson aufstellt.
So formuliert Anderson die Annahme, dass das Individuum zwangsweise zum Widerstandskämpfer
wird, wenn der Unterdrückungsapparat des Establishments es in seiner Selbstverwirklichung
zu sehr einschränkt. Deshalb stellt Anderson Mick Travis und seine Freunde
nicht als Revolutionäre dar, die einen langen Weg der Erkenntnis über
die Ungerechtigkeit dieser Welt gehen und sich von Konformisten zu Nonkonformisten
wandeln, bis sie die Tat der Gewalt als das Mittel der letzten Verzweiflung
wählen. Nein. Unangepasst sind Mick und seine Jungs schon von Beginn an.
Beispielsweise trägt Mick als sogenannter hair rebel schon zu Schuljahresbeginn
die Saat der Rebellion in sich. Sein Schnurrbart, den er als Überbleibsel
der Ferien mit in die Schule bringt, symbolisiert das. Der Schnurrbart ist dabei
nicht nur ein Zeichen eines Wildwuchses, den die Schule nicht dulden kann, sondern
vielmehr eine Maskierung. „Er soll meine Sünden verstecken“, erklärt
Mick seinem Freund Johnny den Zweck dieses verbotenen Symbols männlicher
Sexualität.
Sicher, man könnte
jetzt sagen, „if…“ müffelt doch sehr nach dem mehr als abgestandenen Rebellionsgeist
der 68er-Zeit. So hängen an der Wand von Micks Aufenthaltsraum mit Bildern
von Che Guevara, Mao und Vietnam feste Bestandteile der 68er-Ikonografie. Obendrein
wurde „if…“ nur kurz vor den Aufständen in Paris im Mai 68 gedreht. Und
nicht zu vergessen, klagt Anderson spezifische Missstände an englischen
Schulen an, die im Westeuropa der sechziger Jahre ihresgleichen suchten. Dieser
hohe Wiedererkennungswert mit seiner Entstehungszeit verleiht „if…“ zunächst
nur den filmhistorischen Wert als Zeitstück.
Dennoch: Andersons
Revolutionshypothese sollte auch heute noch Diskussionen provozieren. Denn in
„if…“ funktioniert die Schule als Unterdrückungsmaschinerie noch immer
als Metapher für jede Form institutioneller Herrschaft, auch wenn es heute
keine Prügelstrafe mehr gibt. Gerade heutzutage wird die individuelle Freiheit
des einzelnen durch die Erfordernisse des globalen Turbokapitalismus mehr und
mehr eingeschränkt. Das frei zirkulierende Kapital zwingt immer mehr Menschen
in einen globalen Wettbewerb und Überlebenskampf, der kaum noch Chancen
für eine individuelle Lebensgestaltung bietet. Das sind eigentlich Lebensumstände,
die nach Anderson den Widerstand jedes Einzelnen herausfordern sollten. Zumal
der einzelne Staatsbürger kaum noch durch seinen Staat beschützt wird,
während die Eliten den Gesellschaftsvertrag mehr und mehr aufkündigen
und ihr Eigentum als nicht mehr verpflichtend betrachten. Das beweist gerade
einmal wieder das internationale Finanzsystem, bei dem regelmäßig
Gewinne privatisiert werden und Verluste auf Kosten der Allgemeinheit gehen.
Warum aber scheint Andersons Dialektik zwischen individueller Freiheit und Unterdrückung
durch das System heute niemand mehr zu interessieren?
Man kann Anderson
nicht vorhalten, dass er mit seiner Revolutionsthese einem veralteten historischen
Materialismus im Marxschen Sinne nachhängt. Dafür wäre heute
kaum noch jemand empfänglich, allein schon wegen des negativen Gefühlswertes
des Marxismus – ganz anders als noch 68. Was behauptete Marx noch gleich? Nach
seinem historischen Materialismus existieren objektive historische Gesetze.
Demnach führt der Widerspruch zwischen Kapitalbesitzern und dem Proletariat
zwangsweise zu einer Revolution, weil die Produktionsverhältnisse für
die arbeitenden Menschen zu einer Fessel werden und ihre Selbstentfaltung verhindern.
Auf diese Weise sollte dann der Kommunismus über das Zwischenspiel des
Sozialismus den Kapitalismus umwälzen. Die Geschichte hat bewiesen, dass
diese Revolution ausgeblieben ist.
Anderson jedoch
passt sich der modernen Wissenschaftstheorie an, die einstimmig die Existenz
solcher objektiven Gesetze bestreitet. Er sagt nicht, dass es zu einer Revolution
kommt, weil, sondern im
Gegenteil wenn bestimmte Bedingungen
vorliegen. Zu diesem Zweck lässt Anderson dem Zuschauer genügend Spielraum
für eigene Urteile und Interpretationen. Dafür sorgt vor allem die
Gestaltung des Titels „if…“, der am Anfang und am Ende erscheint und wie eine
programmatische Klammer der Geschehnisse wirkt. Denn Auslassungspunkte schließen
die Konjunktion if ab und erhöhen so den Abstraktionsgrad der Geschichte,
indem sie den Zuschauer dazu zwingen, die Unbestimmtheit der Auslassungspunkte
durch ihre eigenen Vorstellungen auszufüllen. Gerade am Ende wirkt die
Titelzeile wie ein Nachhall. In der letzten Kameraeinstellung sehen wir das
Gesicht des endlos feuernden Mick, dann wird das Bild schwarz und es erscheint
noch einmal die Titelzeile „if…“ mit seinen Auslassungspunkten. Für den
Zuschauer gibt es folglich kein Entkommen sich der Urteilsfindung auszusetzen.
Der Hypothesencharakter
der Geschichte findet darüber hinaus in zahlreichen surrealen Momenten
eine gelungene Verstärkung. So erscheint gerade die Revolte Micks und seiner
Freunde wie eine Traumvorstellung, die den Schluss erlaubt, die bewaffnete Revolte
finde nur in den Köpfen der Rebellen statt. Außerdem taucht wiederholt
ein rätselhaftes Mädchen ohne Namen auf, eine Kellnerin, die Mick
und Johnny bei einem unerlaubten Stadtausflug mit einem gestohlenen Motorrad
in einem Raststättencafé aufgabeln. Später schließt sie
sich der Revolte an – auch das könnte nur in Micks Fantasie stattfinden.
Diese surrealen Momente werden immer wieder durch Wechsel der Fotografie von
Schwarzweiß zu Farbe begleitet. Anderson behauptete einmal, die Schwarzweißfotografie
sei aus der finanziellen Not der Filmproduktion geboren worden und nicht aus
ästhetischen Motiven heraus, doch selbst wenn, passt sie perfekt zum surrealen
Gefüge des Films, da sie keinem eindeutigen semantischen Muster zu folgen
scheint.
Wie ernst Anderson
seinen Film meint, beweist sein Verzicht auf jeden parodistischen Schlenker,
der seine Botschaft verwässern könnte. Gewiss, Anderson präsentiert
mit der Auswahl der Schauspieler eine selten gesehene Vielzahl englischer Charakterköpfe,
die wie eine satirische Parade britischer Physiognomie erscheint. Dennoch ist
diese Gesichterparade nicht als parodistischer Effekt zu verstehen, sondern
vielmehr als zynischer und böser Begleitton von Andersons Botschaft.
Der junge Malcolm
McDowell führt als Mick die Gesichterparade an. In seinem Filmdebüt
bietet sein Gesicht bereits die einzigartige Mischung aus provozierender Verschlagenheit,
Arroganz und Witz, aber auch aus jungenhafter Verletzlichkeit. Mit diesem Ausdrucksarsenal
nimmt man ihm seine Empörung über und den Behauptungswillen gegen
den erstickenden Konformismus ab. Der große Stanley Kubrick muss „if…“
gesehen haben, denn als Mick Travis deutet schon einiges in McDowells Spiel
auf seinen Droog Alex Delarge aus „Uhrwerk
Orange“
hin, der so gern wehrlose Dewotschkas tollschockt. Allerdings weckt das Vergnügen
an seinem Spiel auch Wehmut über eine Karriere, die mehr als nur unvollendet
geblieben ist, weil danach außer mit „Der Erfolgreiche“ oder „Im Visier
des Falken“ nicht mehr viel kam.
Trotz all dieser
Qualitäten: Niemand redet mehr über diesen Film, geschweige denn,
dass ihn irgendjemand als Blaupause für den Widerstand betrachtet. Ist
„if…“ also doch nur ein vertrocknetes 68er-Relikt? Oder hat sich Anderson mit
seiner Hypothese geirrt? In den westlichen Industrienationen jedenfalls sind
keine Anzeichen eines nachhaltigen Widerstandes zu erkennen, keine Anzeichen
eines erneut aufkeimenden Rebellionsgeistes.
Dafür kann
es nur zwei Gründe geben: Entweder ist die Dialektik zwischen Beherrschten
und Herrschenden noch nicht groß genug, um einen Widerstand hervorzurufen,
weil es den Beherrschten noch nicht schlecht genug geht. Dann besteht wenigstens
noch Hoffnung, wenn man dem romantischen Bild des gewaltsamen Widerstandes aus
„if…“ verfallen möchte. Oder aber die Dialektik wird niemals groß
genug sein, weil die Beherrschten ähnlich korrumpiert sind wie die Herrschenden.
In dieser vernetzten Informationsweltgesellschaft weiß jeder darüber
Bescheid, dass Regierungen korrupt sind, oder dass die meisten Kriege wie der
Irakkrieg nicht um der Menschenrechte geführt werden, sondern um des Profits
willen. Jeder weiß Bescheid, dass die Schere zwischen arm und reich immer
größer wird und dass sich immer mehr soziale Ungerechtigkeit ausbreitet.
Denn in Buchhandlungen, im Fernsehen und im Internet hat jeder freien Zugang
zu systemkritischen Informationen aller Art. Trotzdem passiert nichts. Niemand
greift zu den Waffen, weder zu den symbolischen noch zu den tatsächlichen
– allenfalls ein paar mexikanische Zapatistas. Doch gerade in dieser jederzeit
zugänglichen Kritik an den Erscheinungsformen und Verhaltensweisen des
Systems besteht die Systemstabilisierung. Sie ist Teil eines Konsumismus, bei
dem alles erlaubt zu sein scheint, der aber wie ein totalitärer Überwachungsapparat
alles beherrscht. Das Universalgenie Pier Paolo Pasolini hatte bei seiner Abrechnung
mit den Ergebnissen der 68er-Bewegung einst für diese Wirkungskraft ein
provozierendes Wort gewählt: Konsumfaschismus. Dabei führt dieser
Konsumfaschismus zwischen Beherrschten und Herrschern zu einem unausgesprochenen
Übereinkommen: Nämlich, es herrsche Ruhe im Land. Welcher Grund es
auch immer sein mag, eines scheint unwahrscheinlich: dass ein Lehrer auf die
Idee kommen wird, „if…“ in der Schule seinen Schülern vorzuführen.
Und selbst wenn, werden die Schüler von heute nichts mit Mick, Johnny und
Wallace anfangen können.
Malte Krüger
If...
England
- 1968 - 111 min. - Verleih: Paramount - Erstaufführung: 12.9.1969 - Produktionsfirma:
Memorial - Produktion: Michael Medwin, Lindsay Anderson, Roy Baird
Regie:
Lindsay Anderson
Buch:
David Sherwin
Kamera:
Miroslav Ondrícek
Musik:
Marc Wilkinson
Schnitt:
David Gladwell
Darsteller:
Malcolm
McDowell (Mick Travers)
David
Wood (Johnny)
Richard
Warwick (Wallace)
Christine
Noonan (Das Mädchen)
Peter
Jeffrey (Rektor)
Rupert
Webster (Bobby Philips)
Robert
Swann (Rowntree)
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