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Inception
Traumarbeits-Agentur
Große Oper, schweres Blech und der Ehrgeiz, eine
virtuose Quadrupelfuge im Geiste der Kunst der Fuge durchzuführen. Nolan versucht, mit dem Spielgeld
von 160 Mio. $ sowohl die Trivialitätsbedürfnisse eines Massenpublikums
zu bedienen, als auch denkfähige, intellektuelle Zuschauer mit psychologisch-philosophischen
Fragen zu ködern. Dies gelingt erstaunlich gut, und dem finanziellen Erfolg
des Films scheint seine komplexe Erzählform nicht abträglich zu sein.
Vielleicht konnte nur ein Brite so "sophisticated"
an die Handlung herangehen, dem Zuschauer überzeugend vier Realitätsebenen
zuzumuten. Das Drehbuch verantwortet er allein, d.h. er brauchte sich offenbar
nicht dreinreden zu lassen. Ein Koautor hätte ihm allerdings wohl doch
gutgetan, denn bestimmte strategische Entscheidungen und einige Einzelheiten
sind nicht plausibel geraten. Die gewissermaßen amerikanische Seite des
Projektes ist erwartungsgemäß die schwächste. Wir bekommen die
Kolonisierung des Freud'schen Unbewussten mit den Stereotypen und Kulissen des amerikanischen
Aktionskinos vorgeführt, eine Traumdeutung aus dem Ungeist stumpfsinniger
Prügelorgien, Schießereien, Explosionen, Autoverfolgungen und krimineller
Machenschaften. Die Dramaturgie wird fast gänzlich aus der Mottenkiste
Hollywoods bezogen. Wir sehen das Motiv der Überforderung/Maximalleistung,
die üblichen Rettungen in letzter Minute, den "letzten Auftrag vor
Pensionierung", die Zentrierung um Eheglück, Familienfrieden, Vater-Sohn-Problematik,
Geschäftsethos, die global-imperialistische Perspektive mit exotischen
Schauplätzen, das ethnisch zusammengewürfelte Team mit einer erotisch
gefährlichen jungen Frau, Ausstattungsdiversität
von der Lagerhalle über Hoteleleganz und Geldadelinterieurs
bis zu futuristischen Räumen usw.
Drehbucharbeit
Nolan geht ungeniert eklektizistisch vor, was er vielleicht
an Camerons Avatar abgeschaut hat, der eine ähnlich breite Zielgruppe
anvisiert und erreicht hat. Die Virtualisierung der Welt
ist in Matrix vorformuliert, die Erforschung der eigenen Person und
Vergangenheit in Nolans eigenem Memento. Die Hochgebirgssequenz
mit Explosion, Schussfahrt (im doppelten Sinne) und Lawine zitiert einen frühen
Bond-Film. Die Bewusstseins- oder Erinnerungsmanipulation gibt es schon in Huxleys Schöne neue Welt, dann in Total Recall,
und die Traumverlorenheit einer Gruppe Traumsüchtiger erinnert an eine
Opiumhöhle chinesischer Tradition. Vermutlich stecken in den Aktionssequenzen
weitere Zitate, und Maurice Fischers Sterben mit einem letzten, bedeutungsschweren
Wort auf den Lippen mag man als Reverenz vor Orson Welles' Citizen Kane deuten.
Als zeitgenössischen Hintergrund haben wir uns die
neurophysiologischen Forschungen mit Fernziel Gedankenlesen sowie das Emotionsmanagement
durch Pharmaka und Computerspiele vorzustellen. Cyborg-Fantasien knüpfen
an den Frankenstein-Mythos an und unterstellen eine ziemlich lächerliche
Schnittstelle aus Betäubungsmittel, Physiologie, Verbindungskabel und antiquierter
Elektronik. Wenn sich das Team zum Gruppenträumen (oder "dream sharing") niederlegt, sieht das wie eine I-Pod-Party aus. Wissenschaftlicher Ehrgeiz mit der entsprechenden Zukunftsoptik
wird hier absichtlich vermieden, aber das ist auch eine der Schwachstellen der
Handlung, denn natürlich bliebe der Rest der Gesellschaft von derartigen
Fähigkeiten und Psychotechniken nicht unberührt. Nolan unterstellt,
dass die Betretbarkeit und Manipulierbarkeit von Träumen bereits so weit
abgesunken sei, dass sie von freischaffenden Agenten in Aufträgen zur Industriespionage
ausgeübt werden kann.
Als ein solcher Extraktor
wird Dom Cobb, Leonardo di Caprio, eingeführt, natürlich als der beste, der
den obligatorischen "unmöglichen Auftrag" bekommt, und passenderweise
vom Japaner Saito. Dieser Unternehmenschef hat als Belohnung nichts Atavistischeres
und Privateres anzubieten als die unbehinderte Rückreise in die USA, wo
Cobb eigentlich wegen fahrlässiger Tötung seiner Frau angeklagt würde.
Die Sehnsucht, die Kinder wieder zu sehen, motiviert also wieder einmal zu den
absurdesten Heldentaten; Apotheose der Familie.
Der politisch-ökonomische Hintergrund ist ebenfalls
äußerst fadenscheinig. Da soll der Sohn und Nachfolger eines Unternehmenspatriarchen
im Energiegeschäft zu einer Verkleinerung oder Zerschlagung des Konzerns
motiviert werden, damit ein Monopol verhindert werde und Saitos Firma noch eine Chance behält. Dass für Monopole Kartellbehörden
zuständig sind und das wirkliche ökonomische Übel die institutionalisierte
Gier ist, nicht die private, übergeht Nolan in seiner politikfreien Weltsicht.
Geradezu hanebüchen ist aber die psychologische
Konstellation zwischen dem sterbenden Patriarchen Maurice Fischer und seinem
Sohn Robert (kühl-gefühllos: Cillian Murphy),
die Cobb in Saitos Autrag ausbeuten soll. Dem Sohn soll die Konzernzerlegung als
eigene Idee eingepflanzt werden, während sein Ehrgeiz natürlich stets
darauf gerichtet war, dem Vater gleichzukommen und sein Erbe zusammenzuhalten.
Im Übrigen wäre auch eine Konzernzerlegung ein rationaler ökonomischer
Akt, der aus bestimmten strategischen Gründen sinnvoll werden kann und
keinerlei "Traumarbeit" bedarf. Um Robert zu der gewünschten
kontraintuitiven Einstellung zu manipulieren – eine Art virales Marketing -, werden
nicht weniger als drei Traumebenen benötigt, zuzüglich der Realitätsebene.
Diese Traumtiefe erfordert entsprechend maximale Anstrengungen: maximale pharmakologische
Sedierung mit extraharter Aufwach-/Rückkehrprozedur, ausgefeilte Planung/Voraussicht,
Berücksichtigung unterschiedlicher Zeitdynamik und rasche Reaktion auf
unvorhergesehene oder verheimlichte Risiken.
Für diese herkulische Aufgabe werden "internationale
Spezialisten" zusammengesucht. Die Traumarchitektin Ariadne wird Cobb von
seinem Vater in Paris vorgeschlagen, nicht mehr als eine Studentin, die erst
beim dritten Mal ein Labyrinth zeichnen kann, das ihres Namens würdig ist.
Natürlich ist die Figur nur ein Vorwand, Paris zu inszenieren und es dann
digital in die Vertikale zu klappen sowie einen gewissen Erotikfaktor zu bekommen,
den man dann für eine Eifersuchtsszene mit Cobbs Gattin
Mal ausnutzen kann. Ebenso ist der Pharmazeut der Truppe, Yusuf aus Mombasa,
ein Vorwand, afrikanische Exotik zu zeigen und vielleicht absurderweise eine
Assoziation mit Naturheilmitteln von Schamanen mitschwingen zu lassen. Arthur
wirkt als Organisator.
Traumarbeit
Nolan braucht für seine Privatmythologie ziemlich
viel Zeit, und man hat immer wieder den Eindruck, dass er den unvermeidlichen
Unstimmigkeiten mit immer neu nachgereichten Erklärungen begegnen wollte/musste.
Die Verteilung der "Traumarbeit" auf mehrere Personen erhöht
natürlich nur das Komplikationsrisiko und den Koordinationsaufwand. Weshalb
Cobb die Träume nicht selbst architektonisch gestaltet, liegt angeblich
daran, dass er in Gefahr stehe, Erinnerungen dafür zu verwenden, was kontraproduktiv
wäre. Die von Ariadne dann tatsächlich gelieferte Architektur fällt
aber weder labyrinthisch, noch sonst aus dem Rahmen, und Cobbs unaufgearbeitete Erinnerung stört tatsächlich den Operationsplan.
Lediglich in der Probephase zeigt Nolan Spektakuläres, das hochgeklappte
Paris, das explodierende Cafe und eine Escher'sche Treppe sowie
einen harmlosen Spiegeleffekt und Schwerelosigkeit. Ansonsten sehen Bauten und
Einrichtungen normal-realistisch aus. Wenn man die expressionistische Szenerie
aus dem Kabinett des Dr. Caligari dagegenhält, muss man Nolan Einfallslosigkeit vorwerfen,
aber diese folgt auch aus der gewählten Psychodynamik.
Nolan lässt sich überhaupt
nicht auf die surreal-anarchistische Natur des Traumes ein, sondern bewirtschaftet
ihn, wie ein Handelsunternehmen eine geschäftliche Expansion plant. Das
Traumgeschehen steckt zwar voller Aggression, enthält ein wenig Liebe,
Trauer und Sehnsucht, aber all das in genau der gleichen Verteilung und Zusammensetzung
wie im realen Leben. Nolan will den Traum nicht möglichst phantastisch,
sondern möglichst realistisch erscheinen lassen und geht dabei der Logik
der Realität auf den Leim. Die Logik des Unbewussten müsste zu ganz
anderen Handlungsverläufen führen, doch Nolan folgt im Grunde der
deterministischen Konditionierungstheorie B. F. Skinners, die
wahrscheinlich auch noch hinter den amerikanischen Managementmodellen und Wirtschaftsstrategien
steckt. Nicht einmal die Überschreitung/Auswechselung der personalen Identität,
die im Traum doch gang und gäbe ist, erlangt hier emotionale Bedeutung.
Eames spielt Fischers langgedienten Berater Browning, um von Robert die Geheimzahl
zum Safe zu erfahren, nachdem die Drohung mit der Pistole nichts gefruchtet
hat. Das Rollenspiel geht jedoch mühelos und bedeutungslos über die
Bühne, weil Eames eben genauso wie Browning aussieht. Solche Verkleidung
ist ähnlich spannend wie die Visualisierung von Computerprogrammen oder
einzelnen Bits als rasende, neonfarbige Motorradfahrer im Film Tron,
nämlich belanglos. Nolan hätte besser an Hitchcocks Behandlung des
Unbewussten angeknüpft, etwa in Vertigo
oder Rebecca. Auch in Psycho, wo eine Mutter-Imago
figürlich dargestellt wird, ist wesentlich mehr seelische Spannung und
Sensibilität am Werke als bei Nolan, der alles figurieren und illustrieren
kann, damit aber nur Äußerlichkeiten nachbildet.
Diese Äußerlichkeiten bestehen in den schon
erwähnten Stereotypen des amerikanischen Aktionskinos, bullet-ballet, wie man spotten könnte, das immer gleiche Geballer und Autoreifenquietschen. Was die Innenwelt einer Seele sein sollte,
wird hier gewaltsam erneut zur Außenwelt gemacht, als ob Innerlichkeit
ästhetisch überhaupt nicht darstellbar oder nicht darstellenswert
wäre. Der Kreativität von Träumen bleibt Nolan jedenfalls fast
alles schuldig, aber sie wäre auch nicht mit seinem Formprinzip vereinbar.
Er denkt nur an sein Kunststück der Traumtiara, das einen festen Zeitplan
und einen eindeutigen Verlauf mit nur geringen Beeinträchtigungen zulässt.
In einer einzigen Traumebene einen psychologisch tiefreichenden Konflikt zwischen
wenigen Personen nachzustellen, hätte eine ganz andere Methode erfordert.
Die in echten Träumen vorkommenden Übertragungen von Eigenschaften
auf andere Personen und Ähnlichkeitsrelationen zwischen scheinbar unverbundenen
Konstellationen, müssten personifiziert und in neue Handlungssequenzen
auseinandergelegt werden oder bedürften eingehender Erklärungen.
Nolan spart sie sich und überzeugt dort, wo er nicht
um sie herumkommt, nicht. Die Hauptkomplikationen sind entweder bloß technischer
Natur oder stammen aus süßlich-banalem Liebesgesäusel. Der eingefangene
Robert Fischer weiß sich überraschend stark zu wehren, setzt eine
Lokomotive auf die Straße und lässt seine Truppe die Lagerhalle der
Traumarbeiter beschießen. Sein Unterbewusstsein ist gegen Insinuationen
trainiert (was sich in Zukunft also wieder nur die Besserverdienenden werden
leisten können). Der erste Rückkehrversuch misslingt infolge einer
Ungenauigkeit. Störend wirken sich aber vor allem Mals unvorhersehbare
Interventionen aus, der Cobb wie einer verführenden Sirene erliegt, angefeuert
gewissermaßen vom Idealbild seiner beiden kleinen Kinder, die er stets
nur von hinten sehen darf.
Liebesarbeit
Dieser psychologische Kern des Films ist leider ebenso
banal wie regressiv ausgefallen. Wie eine Melusine sucht
Mal, deren Name nicht zufällig Schmerz und Übel bedeutet, ihren Gatten
zum Verbleib in der Tiefe - des Wassers, des Traumes - zu verführen, will
also, wie nur je eine Gattin im Hollywood-Film, ihren Mann für ihre Liebe
in Besitz nehmen und von der Arbeit für Wirtschaft und Vaterland abbringen.
Dem dort nötigen Rollenspiel und der gesellschaftskonstitutiven Objektivierung
von Gefühlen ist sie jedoch nicht gewachsen. Als er an ihr seine Methode
der Ideeneinpflanzung testet und sie mit dem Gedanken infiziert, ihre Realität
könne auch nur ein Traum sein, aus dem man durch einen Willensakt erwachen
könne, löst er damit einen destruktiven Schub aus. Die Frau ist für
das leichtfertige Jonglieren des Mannes mit abstrakten und virtuellen Ebenen
zu geerdet und zu identitätsbedürftig. Sie vermag seinen Höhenflügen
und seiner Metamorphotik nicht zu folgen, sondern wendet seine Idee allzu fix
auf ihre aktuelle Wahrnehmung an. Die "eigentliche" Realität,
von der sie sich in ihrem vermeintlichen Traum getrennt sieht, will sie durch
einen Selbstmord erreichen. Damit macht sie einerseits die Kinder zu Halbwaisen,
bürdet Cobb aber auch die Schuld für ihre unvorsichtige Infiltration
auf. Andererseits ist sie nicht nur naiv, sondern auch so böse und berechnend,
vor ihrem Suizid frei erfundene Anschuldigungen gegen ihn beim Notar zu hinterlegen,
sodass er im Lande von einer Mordanklage bedroht ist. Wenn Nolan hier eine femme fatale beabsichtigt haben sollte, ist sie gründlich schiefgegangen.
Das Missverhältnis - und damit ihre Schuld - wird auch bei einem Gang Cobbs in Ariadnes Begleitung durch seine eheliche Seelenlandschaft sichtbar. Er baute
seine hochragend phallischen, kubischen Hochhäuser, Inbild amerikanischer
Wirtschaftskraft, aber sie bestand auf einem lächerlich antiquierten, heruntergekommenen
Einfamilienhäuschen inmitten der Glas- und Stahlgiganten und birgt ihr Innerstes
in einem hinter einer Puppenhaustüre versteckten Safe. Rationalität
und Risikobereitschaft gegen Regression - so lautet auch bei Nolan das aktuelle,
oder um genau zu sein: zukünftige Geschlechterverhältnis, und das
ist nicht der erfreulichste Ertrag des Films.
Es fällt auf, dass Nolan keine erotisch gelingende
Konstellation zeigt. Die beiden stabilen zwischenmenschlichen Endzustände,
die als happy end erreicht werden, sind die posthume und den weiteren Lebensweg
bestimmende Aussöhnung Robert Fischers mit seinem Vater und Cobbs Heimkehr mit seinem Vater (wohltuend human und ”alteuropäisch”:
Michael Caine) zu den verwaisten Kindern (wer hat die bis dahin beaufsichtigt,
da doch die Mutter tot ist?). L. di Caprio als Cobb hat inzwischen
eine Erwachsenheit erreicht, die Ariadne als etwaige Nachfolgerin für
Mal ausschließt. Ellen Page ist zu mädchenhaft-unscheinbar, um gegen
Marion Cotillard als Mal bestehen zu können, die ja im Grunde auch
schon Opfer ihrer Schwäche geworden ist. Es wird also nichts nützen,
scheint Nolan zu sagen, wenn wir den Frauen intelligente Gedanken sollten einpflanzen
können; sie werden weiterhin anders als Männer denken oder an der
männlichen Weltsicht einfach zerbrechen.
Formarbeit
Innovativer als bei diesen psychologischen Unschärfen, Defiziten und Einseitigkeiten ist der Film in der Form.
Das lineare Erzählen so konsequent aufzubrechen, ist mutig und sicherlich
auch nicht ohne die wahrnehmungspsychologischen Erfahrungen mit Computerspielen
möglich. Der Zuschauer muss hierarchisch denken gelernt haben, typischerweise
im Dateibaum eines Betriebssystems oder in den Dutzenden von Ebenen eines Strategie-
oder Kampfspiels. Er muss auf den vier Ebenen des Films aber nicht nur Objekte,
sondern Personen und ihre seelischen Motive verwalten. Es verwundert nicht,
dass man die Eingangssequenz des Filmes erst am Schluss, nach zweieinhalb Stunden,
versteht, wenn sie wiederholt wird.
Nolan hat zur Trennung der Ebenen im Wesentlichen nur
die Ausstattung und Tempounterschiede verwendet. Für die administrative
Ebene ist über lange Strecken eine schäbige Lagerhalle charakteristisch,
später der beruhigende Erste-Klasse-Komfort im Flugzeug, in dem Fischer
umprogrammiert wird. Auf zwei Traumebenen finden hektische Kämpfe und Fluchten
statt, und das Fluchtauto gibt bei seinem geplanten Absturz von der Brücke
Nolan Gelegenheit, auch den postulierten Zeitmultiplikator zu visualisieren.
Dass es den Zeitmultiplikator gibt, ist physiologisch erwiesen. Die erlebte
Zeit ist im Traum wesentlich länger als im Wachbewusstsein, oder anders
gesagt: man kann im Traum in der gleichen Zeit mehr (Er)leben unterbringen.
Nolan macht daraus allzu schematisch einen festen Faktor, den er beim Traum
im Traum auch gleich multipliziert. Wenn also das Auto in extremer Zeitlupe
von der Brücke stürzt, ist das zunächst ein Kinostereotyp, doch
Nolan deutet es um und zeigt daran die Augmentation der Zeit auf dieser Traumebene.
Diese quasi relativistische Zeitdehnung lässt sich freilich nur bei einem
solch sprachlos-physikalischen Vorgang zeigen. Zwischenmenschliche Handlung
und Kommunikation wären gegen Beschleunigung und Verlangsamung resistent.
Nolan führt auch ein Dingsymbol zur Ebenentrennung ein, ein Objekt mit definierten physikalischen Eigenschaften,
und nennt es Totem. Dasjenige Cobbs ist ein Kreisel, der
in der Realität eben umfällt, und im Traum nicht. Tatsächlich
aber wird sich Eindeutigkeit so nicht herstellen lassen, denn dann wäre
es mit der Traumkreativität nicht weit her. Einer der Mitarbeiter verwendet
einen gezinkten Würfel, und Ariadne bearbeitet eine Schachfigur. Während
der Kreisel aber motivisch richtig geführt wird, von Anfang bis Ende des
Films, vergisst Nolan Ariadnes Totem und begeht damit einen Formfehler. Ebenfalls blind
endet das Labyrinthmotiv, das ihn und Cobb überhaupt zu Ariadne bringt und
ihr den Namen verleiht. Ein Labyrinth spielt an keiner Stelle der Handlung eine
Rolle. Nolan muss gemerkt haben, dass topologische Verwirrung etwas anderes
als ontologische oder psychologische Verwirrung ist. Topologische Variationen
wären dem tatsächlichen Traumerleben viel näher gekommen, doch
daraus eine tragfähige und noch überschaubare Handlungsarchitektur
zu entwickeln, hätte eine immense Anstrengung erfordert.
Nolans Privatmythologie ist mutig, aber auch leicht angreifbar
und könnte einen Parodisten anziehen. Ein wenig Schutz sucht und findet
er in der ästhetischen Selbstreferenz seines Werkes. Natürlich ist
sein Traumspiel auch eine Spiegelung des Kinos überhaupt, das seit jeher
als Traumfabrik verstanden wird. Man könnte Nolan zu Gute halten, dass
er die Emotionsmechanik der künstlichen, kinetisch-kinematographischen
Träume reflektieren will, und er selbst würde dazu, mit Verbeugung
vor einem Ausspruch Truffauts zum selben Thema, wahrscheinlich sagen: Filmen ist,
dem Menschen beim Träumen zuzusehen.
Das Pathos wird von Hans Zimmers Musik unterstützt,
die handwerklich allerdings auch Wünsche offenlässt. Man hört
den Synthesizer und ist verstimmt. Bei einer Einschläferungsszene erklingt
etwas, was man als Wotans Abschied - von Brünnhilde in der Walküre - schon mal besser komponiert gehört hat. Eine lange
Final- und Verlustsequenz begleitet Zimmer richtig mit einem chaconneähnlichen Gebilde im Dreiertakt, aber es wird eben doch keine
Chaconne oder Passacaglia, für die es die bekannten und
unerreichten Modelle bei Bach oder Brahms gibt, sondern zieht sich eher gestaltlos
hin.
Gerhard Bachleitner
Dieser Text ist zuerst erschienen in der www.filmgazette.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Inception
USA / Großbritannien 2010 - Regie: Christopher Nolan - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Ken Watanabe, Joseph Gordon-Levitt, Marion Cotillard, Ellen Page, Tom Hardy, Cillian Murphy - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 148 min. - Start: 29.7.2010
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