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The Invisible Woman
"The Invisible Woman" von Ralph Fiennes übersetzt die Geschichte von Charles Dickens' Geliebter Nelly Ternan in klassische Melo-Affekte.
"The Invisible Woman" ist der Titel von Claire Tomalins biografischer Spekulation über Nelly Ternan, die Geliebte von Charles Dickens. "Spekulation" deshalb, weil kaum persönliche Zeugnisse erhalten sind: Dickens warf seine Tagebücher Jahr für Jahr ins Feuer und ließ jeden potenziell inkriminierenden Briefwechsel, den er in die Finger bekam, verschwinden; der Rest von Nelly und Dickens' Korrespondenz wurde, mit wenigen Ausnahmen, von ihren Nachkommen vernichtet. Die Indizien, die Tomalin in ihrem Buch zusammentrug, wiegen dennoch schwer. Auf ihrer Grundlage hat die erprobte Drehbuchautorin Abi Morgan - nach Steve McQueens "Shame" vor allem mit historischem Qualitätskino bzw. -fernsehen befasst - das Script zu Ralph Fiennes' zweiter Regiearbeit geschrieben. Der melodramatisch leuchtende Titel von Tomalins Buch wurde beibehalten: "The Invisible Woman", so könnte auch ein vergessener Film von Max Ophüls heißen.
Tatsächlich zieht Fiennes nach dem (gelinde gesagt) durchwachsenen
Shakespeare-Update "Coriolanus" von 2011 nun ausgesprochen romantische
Saiten auf. Gleich zu Beginn begegnen wir Nelly als schwarzem Schemen, der sich,
das Rauschen der Brandung im Ohr, durch ein windgebeuteltes Strandtableau kämpft.
Dann sind wir plötzlich ganz nah bei ihr, wie sie vor irgendetwas davonzulaufen
scheint. Ihre innere Erschütterung setzt sich nahtlos fort in der äußeren
des Bildausschnitts. Just als beide zur Ruhe kommen, wirft Nelly einen Blick
zurück über die Schulter - und es öffnet sich eine Rückblende
auf ihre illegitime Liebschaft mit dem großen englischen Autor.
In solchen, perfekt getimten Ausdrucksbewegungen beschwört "The Invisible
Woman" klassische Melo-Affekte, denen Felicity Jones in der Titelrolle
indes neue Intensitäten abgewinnt. Erzählt wird die Geschichte von
Dickens' und Nellys Beziehung aus der Perspektive des gerade volljährigen
Mädchens, dem Dickens bei den Proben zu Wilkie Collins' "The Frozen
Deep" begegnete - gebrochen aber durch die Perspektive der erwachsenen
Frau. Nicht nur die Chronologie der Ereignisse wird dadurch modifiziert, sondern
auch und vor allem deren Komplexion: Über das emphatische Jetzt des Historienfilms
legt sich eine Aura der nachträglichen Vergeblichkeit.
Nellys Unsichtbarkeit ist das Gegenstück zu Dickens' Leben im Lichte der Öffentlichkeit. Die hunderte Zuhörer einer Lesung, die gebannt auf den kleinen Mann allein auf der Bühne starren; der Menschenpulk, der sich um ihn bildet, wenn er auf der Straße erkannt wird: diese Art von Berühmtheit, die an totale Ausgesetztheit grenzt, wird in Fiennes Inszenierung als Prototyp des modernen Stardaseins kenntlich. Auch die Abhängigkeit Dickens' von seinem Publikum deutet in diese Richtung. So wie Fiennes ihn spielt, ist er tatsächlich mehr Schau- denn Schriftsteller. Und in der Immersionserfahrung, die Nelly auf besagter Lesung macht, steckt nicht zufällig eine Ahnung vom Kino.
Nellys Unsichtbarkeit findet ihre Entsprechung in einem ständigen
Halbdunkel, in das der Film getaucht ist, vor allem in den Innenräumen,
wo es den historischen Stand der Beleuchtungstechnik akkurat widerspiegelt,
zugleich aber auf die Geheimniskrämerei verweist, zu der Dickens und Nelly
sich aus Rücksicht auf viktorianische Sitten genötigt sahen: Bei Kerzenlicht
und im Flüsterton werden sie sich (auch im biblischen Sinn) erkennen.
Vom planlos-ungelenken "Coriolanus" zu den aufwändigen Tableaus und sorgfältigen Motivverkettungen von "The Invisible Woman" ist es ein weiter Weg. Fiennes hat sich nach allem Anschein zu einem stilbewussten und geschmackssicheren Regisseur gemausert, vom falschen Bauch und der Nasenprothese, die seinen Dickens zieren, einmal abgesehen. Vielleicht sogar ein wenig zu sicher - ein bisschen Akademismus atmen die penibel kadrierten Bilder schon. Andererseits leistet sich Fiennes eine Deflorationsszene, die dem betulichen Schattengewese ein Schnippchen schlägt, indem sie anatomische Details ohne falsche Scham kurzerhand hörbar werden lässt.
Der größte Trumpf des Films ist aber seine Hauptdarstellerin. Aus einer Figur, die höchstens gut geschrieben ist, macht Felicity Jones ein Ereignis. Ob er mit seinem Leben zufrieden sei, fragt sie Dickens an einer Stelle. Worauf diese Frage anspielt, ist seine Berühmtheit, die ständige Aufmerksamkeit, nach der er giert. Aus Jones' Mund reicht der Satz jedoch weiter. Ihre Empörung, ihre Herausforderung geht alle an: "Do you like this life?"
Nikolaus Perneczky
Dieser Text ist zuerst erschienen im: www.perlentaucher.de
The Invisible Woman
Großbritannien 2013 - 111 Minuten - Start(D): 24.04.2014 - FSK: ohne Altersbeschränkung
- Regie: Ralph Fiennes - Drehbuch: Abi Morgan - Produktion: Christian Baute,
Carolyn Marks Blackwood, Stewart Mackinnon, Gabrielle Tana - Kamera: Rob Hardy
- Schnitt: Nicolas Gaster - Musik: Ilan Eshkeri - Darsteller: Ralph Fiennes,
Felicity Jones, Kristin Scott Thomas, Michelle Fairley, Tom Hollander, Tom Burke,
Perdita Weeks, Joanna Scanlan, John Kavanagh, Charlotte Hope, Michael Marcus,
Laurence Spellman, Gabriel Vick, James Michael Rankin
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