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Jackie Brown
Pam Grier als Geldkurier zwischen Samuel L. Jackson und der
Polizei - Quentin Tarantinos Meisterwerk.
Inhalt
Jackie Brown (Pam Grier ) arbeitet als Stewardess bei einer schäbigen
mexikanischen Fluglinie. Die heimliche Aufbesserung ihres Gehalts erfolgt als
Geldkurier für den Drogenhändler Robie Ordell (Samuel L. Jackson ).
Der hat gerade den bailbondsman Max Cherry (Robert Forster ) damit beauftragt, einen seiner "Angestellten"
(Chris Tucker ) auf Kaution freizukaufen. Aber nur, um ihn, kaum ist er auf
freiem Fuß, selbst zu erledigen - zu groß war ihm die Gefahr, dass
der von einer hohen Gefängnisstrafe Bedrohte etwas ausplaudern könnte.
Just zu diesem Zeitpunkt erwischt es auch Jackie: Zwei Beamte der ATF (Michael
Keaton und Michael Bowen ) schnappen sie am Flughafen mit einem Päckchen
Geld und Drogen und drohen ihr mit der Haft, sollte sie nicht ihre Hintermänner
bekannt geben. Doch Jackie schweigt vorläufig. Ordell lässt auch sie
von Cherry aus dem Knast holen - und Jackie weiß, dass sie in Gefahr ist.
In höchster Not entwickelt sie einen Plan, der sie aus der Zwickmühle
zwischen dem unberechenbaren Gangster und der Polizei befreien soll. Sie will
die halbe Million Dollar, die Ordell im Ausland auf die Seite gebracht hat,
bei einer erneuten Übergabe ins Land bringen. Sowohl der Polizei wie auch
Ordell unterbreitet sie diesen Vorschlag in verschiedenen Varianten (die die
jeweilige Seite zufriedenstellt). Doch als es in der größten shopping mall Amerikas zur Übergabe kommt, hat Jackie mit Max Cherry eine
dritte Partei im Spiel...
Kritik
Mit einer der unstrittig besten Soulnummern aller Zeiten, Bobby
Womacks Across 110th Street (aus dem gleichnamigen Film von Barry Shear mit Anthony Quinn),
beginnt Jackie Brown. In der Creditssequenz sehen wir dazu eine in Würde gealterte
(im Film 45-jährige) Pam Grier langsam ein Förderband auf dem Flughafen
entlanggleiten, hinter ihr eine Mosaikwand in wechselnden Farben. Während
sich der Vorspann seinem Ende (und das Filmmosaik seinem eigentlichen Beginn)
nähert, beginnt sich Griers Bewegung allmählich zu beschleunigen,
bis sie losläuft, dem Ausgang zu. Auf clevere Weise enthält diese
Szene den Bauplan des Films. Vor dem Hintergrund verschiedener, überlappender
Stile (das Mosaik) verfolgt Jackie Brown die Bewegung diverser Charakter beim Versuch der Überwachung
(die Kamera) zu entkommen, während sie die heimliche Transaktion von Geld
(das in Griers Tasche ist, wie wir gleich erfahren werden) vollziehen wollen.
Zugleich ist der Film eine Liebesgeschichte und eine Liebeserklärung, nicht
nur, aber vor allem an Pam Grier, die vergessene Heldin zahlreicher Blaxploitation-Klassiker
aus den 70ern, die wie aus dem Nichts (zuvor hatte sie mit ein paar Kleinstrollen
in Escape From L.A., Original Gangstas und Mars Attacks! ihre Rückkehr ins
Kino angekündigt) aufersteht wie ein Phönix aus der Asche: Eine schwarze
Frau im mittleren Alter, deren Schönheit in ihrer Selbstachtung liegt,
die diese elegante Fahrt zu Beginn zärtlich einfängt. Darum trägt
der Film auch den Namen ihrer Figur: Jackie Brown.
Doch zuvor lernen wir eine andere Macht kennen: Robie Ordell (Samuel
L. Jackson ), Drogenhändler und smartass, der sich gerade mit seinem "Surfer Girl" Melanie (Bridget
Fonda ) und seinem aus dem Gefängnis entlassenen Kumpel Louis (Robert De
Niro, in den Neunzigern ja oft auf seine Einheitsrolle festgelegt, in einem
Heuler von einer Performance: Ein wortloser, ständig zugedröhnter
Dämlack von epischen Proportionen - ein typisches Beispiel für Tarantinos
Meisterschaft, selbst noch in den Nebenfiguren mit ungeahnter Sensibilität
neue oder "vergessene" Qualitäten von Schauspielern freizulegen)
am Heimvideo "Chicks With Guns" erfreut. Bikinimädels präsentieren
da Waffen und Ordell legt dazu den ersten seiner großen Monologe vor:
Von den Vorteilen diverser Waffen, "When those Hongkong movies came out,
every nigga gotta have a .45. And they don’t want one, they want two, ‘cause nigga want to be
The Killer." Dass die .45 eine Scheißwaffe ist, weil sie immer verklemmt,
dass Ordell immer nutzlos versucht habe ihnen zu einer besseren zu raten und
dass es seine Käufer nicht hören wollten, ist einer der ersten Punkte,
an denen sich Tarantinos Fortschritt als Regisseur zeigt. Die Referenz zum anderen
Film ist nicht hippes Zitat, sondern die Reflexion auf Einbindung von Popkultur
in die Gesellschaft - und Jackie Brown wird diesen Weg verfolgen. Darum war wohl dem Film bei seinem
Erscheinen zwar ein Rezensionserfolg beschieden, aber bei vielen Tarantino-Fans
hatte sich Enttäuschung breitgemacht. Obwohl an der Oberfläche die
Gestaltung und Monologe wie dieser anfangs den Eindruck erweckt haben, dass
hier ein weiteres "typisches" Tarantino-Produkt auf sie zukommen würde,
schlägt Jackie Brown dann nämlich einen unerwarteten Haken. Weg von
der brillanten Referenzmaschine Pulp Fiction, ein Film über andere Filme, eine Spaßfabrik ohne tieferen
Sinn, deren Vergnügen daraus bestand, die verwirrenden Zeitlinien zu ordnen
und die Zitate zu entdecken, dies alles mit Tarantinos unnachahmlichen Gespür
für coole Dialoge, entspannte Inszenierung hin zur explosiven Entladung
und seiner Begabung, dies alles perfekt durch Musik zu kontrapunktieren und
verstärken. Jackie Brown teilt diese Qualitäten, aber er lässt die Entladung
weg - dafür verankert er einen Teil seines Figurenpersonals im "wirklichen"
Leben.
Der Charakter Ordell ist dafür ein perfektes Beispiel - war
Samuel L. Jackson schon in Pulp Fiction brillant, so ist seine verfeinerte Darstellung in Jackie Brown ein Höhepunkt im Schauspiel der Neunziger. Ordell besetzt
die Schnittstelle zwischen Film (ein Platz, den hier die Nebenfiguren einnehmen:
Fonda und De Niro so wie auf der Gegenseite die zwei Cops Keaton und Bowen sind
Filmfiguren, so wie das Personal von Pulp Fiction) und Realität (Grier und Robert Forster). Tarantino hat
ihm hier nicht nur Monologe auf den Leib geschrieben, die der Schauspieler mit
perfekter Intonation auf ihre rhythmischen, klanglichen und charakterbildenden
Eigenschaften (Tarantinos Begabung für die bodenständige Erdung durch
Triviales zeigt sich weiterhin auf der Höhe) ausreizt (und so dem Regisseur
das Geschenk hundertfach zurückzahlt), sondern gibt ihm in seiner detailreichen
(die Art wie er sich den überlangen Bartfortsatz streichelt, wie er mitten
in der Rede innehält, um sich aufmerksamkeitsheischend zu konzentrieren,
bevor er seinen Satz auf den Punkt bringt oder wie er sich sorgfältig vor
dem hit seine Handschuhe anlegt) Anlage der Figur die Chance, mehr zu
sein als ein weiterer hipper Gangster aus der Feder des Mannes, der hippe Gangster
beschreibt, wie kein zweiter. Ordell kennt nicht nur die Genealogie seiner Filmvorgänger,
sondern auch den Umgang mit Verhaltensweisen im echten Leben - und wechselt
je nach Situation und Gegenüber seinen Tonfall von Solidarität unter
schwarzen Brüdern zur zynischen Abgrenzung von denselben.
Zum Beispiel bei seinem ersten Treffen mit dem Kautionssteller
Max Cherry (mit Robert Forster holt Tarantino noch einen vergessenen Helden
aus der Versenkung und schreibt ihm gleich die Rolle seines Lebens auf den Leib:
Sein zurückhaltender, desillusioniert-lebensweiser, ganz auf Präsenz
ausgerichteter 56-jähriger Mann an der Schnittstelle von Verbrechen und
Kriminalität ist nicht zufällig der Katalysator der Erzählung).
Der hört Ordell zu, wie er sich vortastet, in kreisender Argumentation
durchblicken lässt, was er von Cherry haben will und dabei möglichst
wenig Hintergrundinformation preisgibt ("Ordell’s completely paranoid",
wie es Jackie einmal formuliert - und tatsächlich, der Umgang dieses durch
seine Gabe für Worte faszinierend unauffällig ausbeuterisch angelegten
Verbrechers mit anderen Personen ist immer davon geleitet, wie sehr er glaubt,
diese kontrollieren zu können), bevor er sich mit ruhiger Gelassenheit
daran macht, seine Aufgabe zu erfüllen.
Diese Aufgabe ist Beaumont (selbst Chris "Nervensäge"
Tucker bekommt unter Tarantinos Regie Zügel angelegt, die seinen Kurzauftritt
zu einer schönen kleinen Rolle werden lassen) aus dem Gefängnis zu
holen. Was folgt ist ein typischer schwarzhumoriger Tarantinomoment. Ordell
wird Bomer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dazu bringen, sich in den
Kofferraum seines Wagen zu legen, angeblich um bei einem Deal zu helfen. Gemächlich
fährt der Wagen los, angeblich ins Koreanerviertel, um einen Deal abzuwickeln.
Während Motorengeräusch und Musik langsam verblassen, zieht sich die
Kamera in die Höhe zurück und macht dann einen schönen Schwenk
aufs Gelände hinter einem Zaun (Zäune, Gitternetze und Gefängnisstäbe
tauchen in der ersten Hälfte von Jackie Brown immer wieder auf - eine vorausblickende Vertiefung seines Themas
von Überwachung) nebenan, wo plötzlich, nach ein paar Sekunden der
Wagen wieder auftaucht, Musik und Geräusch leicht blasser zurückkehren,
beim Stillstand verstummen und Ordell beiläufig aussteigt und sich seines
Mitwissers durch zwei trockene Schüsse erledigt.
Erledigt wird scheinbar gerade auch Jackie: Von der Polizei geschnappt
(Michael Keatons selbstgefälliger Charakter ist übrigens derselbe
wie in Out of Sight), geht sie ins Gefängnis, nachdem sie sich nicht kooperationswillig
gezeigt hat. Im Auftrag Ordells wird sie Max Cherry von dort herausholen - und
die erste Begegnung der beiden, als Jackie in einer langsamen Einstellung durch
den Ausgangskorridor auf Max zukommt, ist schon ein erstes kleines Meisterstück
in der zurückhaltenden (und eben deswegen so echten) Liebesgeschichte,
die das pulsierende Herz dieses Films ist. Langsam schwillt die Musik an und
das Hallen von Jackies Schuhen wird lauter, geradezu proportional zur Abstandsverkürzung
zwischen den beiden. Ein Moment, in dem sich auch die Möglichkeiten potenzieren.
Und eine dieser Möglichkeiten (eine Rare in Hollywoodfilmen:
der Wunsch nach Liebe zwischen zwei gefestigten, älteren Menschen) wird
wahr werden. Zuvor zeigt Tarantino in einem famosen Zwischenspiel sein gewachsenes
Gespür für den Zusammenbau von Stilen. Jackie Brown hat sich schon durch die Musik und Besetzung an einem Schnittpunkt
der Filmgeschichte plaziert: Die Blaxploitation der frühen Siebziger einerseits,
die "modernen" Gangsterfilme der späten Sechziger wie Thomas Crown ist nicht zu fassen oder Der Frauenmörder von Boston andererseits. Ein Charakteristikum der letzteren (die Split-Screen)
wird jetzt ganz plötzlich in einer Szene auftauchen, die zum ersten Themenkreis
gehört. Ordell kommt spätnachts zu Jackie und wir fürchten, dass
ihr als Frau, die zuviel wusste, ein ähnliches Schicksal wie Beaumont droht.
Während ein in betont "schwarzer" Rede gehaltenes Geplänkel
beginnt, in dem Ordell zunehmend bedrohlicher wirkt, schiebt sich plötzlich
links eine zweite Szene ins Bild: Max Cherry im Auto, am Heimweg. Gerade als
wir glauben, Ordell werde gleich seine Waffe zücken, öffnet Cherry
im anderen Bildausschnitt sein Handschuhfach und stellt fest, dass seine Pistole
fehlt - mit der prompt Jackie im rechten Bild Ordell zuvorkommt und ihn entwaffnet.
Das ist in seinem Timing perfekt beiläufig (und eben dadurch so komisch)
inszeniert - und zeigt einen Regisseur, der darüber hinausgewachsen ist,
brillante Verschränkungen als bloßes Gimmick einzusetzen.
Den weiteren Reifeprozess Tarantinos - ein emotionaler, der die
Gefühle seiner Figuren respektiert - illustriert der nächste Morgen.
Max kommt bei Jackie vorbei und die am Vorabend angedeutete Bindung zwischen
den Charakteren beginnt sich ganz selbstverständlich zu realisieren: Die
beiden sprechen über Haarausfall und Plattensammeln (Jackie bemerkt, dass
sie kaum CDs kaufe, denn sie sei "sick to start all over again" -
ein Satz der gleichzeitig ihre prekäre Lage als Filmfigur beschreibt -
eine gealterte Schwarze, die bereit ist, ihre letzte Chance zu ergreifen) und
dann legt Jackie eine Platte von den Delfonics auf, auf der Tonspur erklingt
der süßlich-prächtige Vocalsound der Gruppe, als der Text einsetzt..."I
gave my heart and soul to you", und man kann in einem der ergreifendsten
Momente in der jüngeren Geschichte des Kinos sehen, wie sich Max endgültig
in Jackie verliebt, während sie im Schein der Morgensonne vor dem weiten
Fenster steht und sich eine Zigarette anzündet. Dass hier Worte unnötig
sind, dass die bloße Präsenz der beiden Akteure genügt (hier
wird nicht einmal "gespielt") zeigt auch die Liebe, mit der Tarantino
daran arbeitet, "seine" Filmgeschichte als Schauspielerneuerfindung
umzuschreiben.
Nachdem Tarantino mit diesem plötzlichen Stimmungswechsel
die Filmhandlung auf den Boden der Realität zurückgeführt hat
(ein weiterer Höhepunkt dieser Art ist eine kleine Szene am nächsten
Abend, als Jackie heimkommt und den Anrufbeantworter abhört: Max ist drauf,
und man hört die leicht ungeübte Sehnsucht in seiner Stimme, während
er - ganz sein Charakter - eine lange Ansammlung von Telefonnummern hinterlässt,
unter denen ihn Jackie erreichen kann), wechselt Jackie Brown zurück in den Krimimodus. Jackie ist nun von beiden Seiten
bedroht (Gefängnis von der Polizei, Tod von Ordell) und setzt einen Plan
zur Geldübergabe auf - der Polizei gegenüber behauptet sie, ihnen
damit Ordell in die Hände zu liefern, Ordell gegenüber erläutert
sie einen Plan, wie man die Polizei dabei austricksen kann. Hintenrum bietet
sie jedoch Max einen Weg an, wie man die Beute selbst auf die Seite schaffen
kann. Und es kommt zum ersten Probelauf, bei dem nur eine kleine Summe transferiert
wird - und zwar in der größten Shopping Mall Amerikas. Hier findet
Jackie Brown sein Zentrum, verankert seine Filmerzählung von Gaunern und
ihren Jägern an einem ganz realen Ort vor einer Situation, die gleichzeitig
aus dem Plot her völlig glaubwürdig ist (die Wahl der Mall als Ort,
an dem jeden Tag Unsummen von Geld transferiert werden, scheint allen Beteiligten
als logischer Übergabeplatz für einen illegalen Tausch) und eine unerwartete
(obwohl zuvor in den Bildern angelegte) soziale Komponente einbringt. Die Architektur
der Shopping Mall ist die Architektur der Überwachung. Gebaut zur Regulierung
der Käuferschichten und zum Herausfiltern von unerwünschten (kriminellen)
Elementen, verbindet sie das Gefängnis und den Konsumtempel. So gesehen
ist sie auch für den Überwachungsapparat (die Polizei) der ideale
Ort für den Transfer und verankert zugleich Tarantinos Erzählung von
Popkultur (die ja ebendort erworben wird - etwa von Max, der in die Mall geht,
um sich dort Kinofilme anzusehen) an einem Platz, wo deren Austausch an der
Tagesordnung ist.
Die zentrale Sequenz von Jackie Brown, in der die entscheidende Geldübergabe aus verschiedenen
Perspektiven präsentiert wird, ist damals oft abfällig betrachtet
worden - als Abklatsch des verspielten Umgangs mit Zeit in Pulp Fiction - doch tatsächlich ist sie der Höhepunkt des Films:
Hier findet nicht nur der rein erzählerisch entscheidende Moment der Handlung
statt, hier testet der Regisseur die Stärke seiner Figuren durch ihren
Umgang mit der Überwachungswelt. Form und Inhalt haben ideal zueinander
gefunden: Ab jetzt verhandelt Jackie Brown noch mehr als eine unterhaltsame, wendige Krimihandlung und eine
Serie von Lebensanschauungen, sondern stellt zugleich sich selbst als Abbildungsmodell
sozialer Fragestellungen wie deren Umsetzung in ein Unterhaltungsmedium aus
- und führt eben darum Tarantinos Kunst auf einen neuen Höhepunkt
- heraus aus dem Ghetto, in das ihn seine Imitatoren zu drängen drohten.
Wie er das genau bewerkstelligt, kann man auf der zweiten Seite dieses Essays erfahren - aber Vorsicht: Um das genau zu betrachten, müssen leider entscheidende Handlungswendungen verraten werden. Wer Jackie Brown also noch nicht kennt, wird vermutlich nicht weiterlesen wollen - die anderen begeben sich hier ins Spoiler-Sperrgebiet.
!!!WARNUNG!!!
Ab hier wird entscheidende Filminformation verraten - Wer
Jackie Brown noch nicht kennt, sollte lieber nicht weiterlesen.
Dreimal sehen wir die Fahrt zur shopping mall, dreimal unter anderen Vorzeichen, je nach Musik. Max fährt
mit dem Delfonics-Lied, das ihn fast durch den ganzen Film begleitet (wir sehen
ihn es kaufen, nachdem er es bei Jackie gehört hat), Melanie und Louis,
die Ordell geschickt hat, um das Geld entgegenzunehmen, streiten wegen des Sounds
(ihr Versagen in der folgenden Situation vorzeichnend), und Jackie bekommt "Street
Life" (etwas, dessen tiefere Bedeutung sich noch in der weiteren Argumentation
zeigen wird). Und zu eben diesem Song betritt sie als erste die mall und in einer atemberaubenden Wiederholung der Eröffnungssequenz
geht sie wieder an einer Mauer vorbei - doch diesmal ist diese blau, und Jackie
scheint in ihrer blauen Uniform davor nahezu zu verschwinden, so wie sie im
entscheidenden Moment aus der Rolle der Verbrecherin in die eines normalen Kunden
schlüpfen wird, um sich damit ein Alibi zu verschaffen. (Die Zusammenhänge
zwischen Selbstbildnis der Figuren und ihren Anwendungsstrategien in der mall hat meines Wissens zum ersten mal Alexander Horwath in seinem
wunderschönen Aufsatz "Les Flaneurs du Mall" besprochen, dem
ich auch ansonsten für einige Details verpflichtet bin.)
Was folgt ist ein filmischer Testlauf in einer normalen Situation:
Dreimal wird die Übergabe in der Reihenfolge des Eingreifens der jeweiligen
Personen von vorne starten, dreimal erzählt der Film von der sozialen Vernetzung
der Figuren, dreimal schlägt ein geplantes Manöver überraschende
Winkelzüge, und dreimal wechselt dazu die Musik. Beim ersten Mal, Jackie
folgend, basiert die Korrelation zwischen Ton und Bild scheinbar auf normalen
Krimiregeln: Nachdem sie ihren Teil des Geldtransfers abgewickelt hat, zieht
die Musik an, ein basslastiger Percussionsound folgt ihrem Hetzen durch die
Mall und lässt das ansonsten gemächliche, charakterorientierte Kino
von Jackie Brown kurz in einen Geschwindigkeitstaumel verfallen. So schnell muss
Jackie sein, um ihr Alibi den Polizisten glaubhaft zu machen - die, auch ganz
genreimmanent, sowohl ihrer Selbstgefälligkeit wie auch ihrem erhöhten
Überwachungsanspruch an diesem Ort blind vertrauen, und genau deswegen
am Ende die Gelackmeierten sind.
Gleiches gilt für das andere Paar Filmfiguren - Melanie und
Louis bilden die zweite Einheit, anhand derer wir die zentrale Sequenz nochmal
durchleben. Melanie bleibt oberflächlich wie eh und je: Den ganzen Film
über war sie unfähig, den Ernst der Lage zu erfassen, folgerichtig
ist ihr sowohl die Idee der Kontrolle (als sie die Summe in Empfang nimmt, kontrolliert
sie nicht einmal, die clevere Jackie hat ihr sogar noch ein kleines Geldgeschenk
dazugelegt - ihr Weg, sich zusätzlich durch die Schwäche einer Anderen
abzusichern - ebenso wie Ordell besitzt auch Jackie eine Manipulationsgabe,
doch scheint diese eher ihrer sozial schwachen Position logisch zu entspringen
und nicht der Notwendigkeit, wie der Gangster eine Show daraus zu machen) als
auch dem Druck der Situation nicht bewusst. Ganz anders Louis, der - frisch
aus dem Gefängnis gekommen - seine Dosis Überwachungsapparat intus
hat. Konsequenterweise verwandelt sich der lethargische Ex-Knacki plötzlich
in ein Nervenbündel und die Auflösung der Szene führt diese beiden
Umgangsformen logisch zusammen: In einem blackout, der für das Publikum ebenso unerwartet kommt wie die Figuren,
erschießt er die quengelnde Melanie, um sich in seinen Ruhezustand zurückzubegeben.
Bleibt Max Cherry, der ganz seiner gemächlichen Gangart folgend,
am Schluss die Beute einsammelt. Als Pragmatiker ist ihm die Nervosität
Louis’ fremd. Tarantino findet ein schönes Bild dafür: Die beiden
lauern in der Nähe der Umkleidekabine, in der der Tausch vollzogen wird
und werden des jeweilig anderen gewahr. Max senkt kurz den Blick, und entscheidet
sich dann doch dafür, Louis ein grüßendes Nicken zuzuwerfen,
fast wie ein verspäteter Gedanke, ausgelöst durch nachträgliches
Wiedererkennen. Max ist nicht nur mit dem Ort vertraut (er ist der einzige,
der ihn auch in seiner Freizeit regelmäßig aufsucht), er ist auch
viel zu sehr Profi, um sich hier bei einem falschen Moment im Handeln erwischen
zu lassen.
Wie genau die verschiedenen Doppelungen von Jackie Brown gearbeitet sieht, erkennt man daran, dass diese Szene eine vorhergehende
spiegelt. Bei einer früheren Szene in der mall hat Ordell Max gesehen, senkt ebenfalls den Blick und entschließt
sich dann, sich nicht zu zeigen. Zu seiner Verblüffung beobachtet er Jackie
und Max, denkt kurz nach und beschließt dann, dass dies für ihn unerheblich
ist. Eine Ironie für Götter: Tatsächlich hat Ordell nämlich
recht - Max und Jackie haben sich nur zufällig getroffen - aber genau hier
beginnt ihre Zusammenarbeit an dem Ding, das letztendlich den Untergang von
Ordell einläuten wird. Der verlässt sich zu sehr auf seine Manipulationsgabe
- wenn er etwas für sich durchdacht hat (in einem wundervollen Moment,
bleibt der Film einmal stehen, versinkt ganz in der Betrachtung des Schauspielers,
der eine Redepause von Louis gefordert hat, um sich für einen Moment der
Konzentration zurückzuziehen, und dann genau die Entscheidung trifft, die
ihm - mit einem Knall eingeleitet - den Rest des Films keine Ruhe mehr lassen
wird), ist es beschlossene Sache - in seinem egozentrischen Weltbild ist seine
Macht größer als die des Zufalls. Max erkennt diese Schwäche
in einem ihrer erste Gespräche "Cause you want me to know what a slick
guy you are" sagt er. Der eitle Ordell nimmt es als Kompliment: Er hält
sich für streetwise, doch wie selbst die oberflächliche Melanie feststellt,
ist er bei weitem nicht so klug wie er glaubt: "He even moves his lips
when reading." Tarantino hat uns vorher schon das Zeichen gegeben: "Street
Life" gehört zu Jackie, Ordell ist ein vampirisches Fluidum aus erfahrenen
und gesehenen Verhaltensweisen, trotz seines sorgfältigen Stylings gesichtslos
wie die ständig wechselnde Musik in seinem Auto: Von Soul bis Johnny Cash
kündet sie immer nur von seiner derzeitigen Anpassungsstrategie. Diese
Hybris bringt ihm auch den Tod: Er verliert sein schickes Apartment, seine Haartracht
löst sich auf zu einem verwirrten Strahlenkranz, und als er am Ende sich
hat einlullen lassen im Glauben, er hätte die Situation noch immer unter
Kontrolle, tappt er auch noch kurzerhand in den Tod. Wie unvorstellbar seine
Machtlosigkeit für ihn ist, zeigt sein letzes Bild: Langsam zoomt die Kamera
näher auf sein totes Gesicht, die Augen noch immer ungläubig aufgerissen.
Die Welt gehört den Menschen, nicht den Filmfiguren - davon
erzählt Tarantinos Film am Ende. Die Gangster sind an ihren eigenen Ansprüchen
gescheitert, die Polizisten ebenso. Übrig bleiben Max und Jackie, die altersweisen
"Helden" dieses Films, die sich eben nicht in langen, cleveren Monologen
definieren, sondern wie wir anderen Normalsterblichen nicht immer das richtige
Wort zur richtigen Zeit auf den Lippen haben und auf ihre Lebenserfahrung und
ihre Präsenz angewiesen sind. Entsprechend profan beginnt der Schluss von
Jackie Brown: Eine Klospülung rauscht. Als Max in sein Büro blickt,
sitzt Jackie schon da und lädt ihn ein, mit ihr zu gehen. Tarantino schenkt
ihnen einen letzten, bewegenden Moment: In einer dieser Gesichtsstudien, die
nur ganz schlicht und schön das Sein des betrachteten Körpers ausstellen
(und die, völlig befreit vom Tarantinos Dialogmacht, ganz offensichtlich
viele seiner Anhänger verstörten) finden sie zu einem ersten Kuss
zueinander, und der Film scheint sein Versprechen von der Liebe wahr zu machen.
Dann schlägt der Alltag zu: Das Telefon läutet, Max hebt ab und akzeptiert
einen neuen Auftrag. Jackie verlässt ihn ohne ein Wort, mit einem sanften
Winken: Sie hat verstanden. Auch wenn Max zuvor davon gesprochen hat, dass er
aus dem Korsett seines Berufs ausbrechen möchte, ist er zu sehr zum Gewohnheitstier
geworden (etwas wovon nicht nur die Anrufbeantworterszene erzählt, sondern
auch sein Umgang mit Kino oder seine Bemerkung, wie viele Anträge auf Freistellung
er schon ausgestellt hat: um die 10.000). Als Jackie weg ist, bleibt er zurück,
seine Gedanken schweifen ihr nach, weg vom Telefonat. Er bittet den Mann am
anderen Ende in einer halben Stunde noch mal anzurufen, senkt seinen Kopf und
bedeckt die Augen. Dann geht er zurück ins Innere des Büros, und langsam
verschwimmt das Bild in Farbkleckse: Der scharfkantige Filmtraum ist vorbei,
das mühselig ungeordnete Leben geht weiter.
Ein Jahr lang habe er im Charakter Robie Ordells gelebt, sagte
Tarantino in Interviews immer wieder. Bei aller Hochachtung vor der ausgefeilten
Kombination, die Drehbuchautor und Darsteller in dieser Gestalt auf die Leinwand
gebracht haben, legt der Schluss etwas anderes nahe. So wie Tarantino mit Pulp Fiction den Jackpot knackte und sich als shooting star Hollywoods etabliert hat, so gelingt es Jackie, ihren Jackpot
zu knacken und mit der Beute aus dem Film zu verschwinden. Das letzte Bild ist
noch einmal eine liebevolle Großaufnahme von ihr im Auto, im Radio läuft
wieder "110th Street" und sie beginnt unhörbar, nur an den Lippenbewegungen
abzulesen, mitzusingen. Von der Grenze des Ghettos erzählt dieses Lied,
die titelgebende Straße ist die Trennlinie, die man überschreiten
muss, um sich zu befreien. Jackie hat es geschafft, sie darf mitsingen, von
dieser Grenzüberschreitung erzählen. Mit Jackie Brown hat sich Tarantino selbst nun genauso aus dem Spaßghetto,
das Pulp Fiction erschuf, befreit - und wie Jackie am Ende des Films an einen
Ort, den sie selbst noch nicht weiß, entschwindet, so ist Tarantino seit
der Veröffentlichung des Films von der Bildfläche verschwunden. Als
hätte er es geahnt, geht es ihm jetzt ebenso wie seiner Hauptfigur: Sie
ist frei, und sie ist allein.
Christoph Huber, 21.07.2000
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.25frames.org
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Jackie Brown
(Jackie Brown)
USA 1997
Länge: 148 Minuten
Originalsprache: Englisch
Altersfreigabe: FSK 16
Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch: Quentin Tarantino, Elmore Leonard (Roman)
Produktion: Lawrence Bender
Musik: Joseph Julián González
Kamera: Guillermo Navarro
Schnitt: Sally Menke
Besetzung:
Pam Grier: Jacqueline 'Jackie' Brown
Samuel L. Jackson: Ordell Robbie
Robert Forster: Max Cherry
Bridget Fonda: Melanie Ralston
Michael Keaton: Ray Nicolette
Robert De Niro: Louis Gara
Michael Bowen: Mark Dargus
Chris Tucker: Beaumont Livingston
Lisa Gay Hamilton: Sheronda
Thomas Lister junior: Winston
Sid Haig: Richter
Denise Crosby: Staatliche Verteidigerin
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