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Japón
Die
Kamera soll Pinsel werden
Ein Mann, eine Frau und ein Canyon: "Japón",
das Debüt des jungen mexikanischen Filmemachers Carlos Reygadas, folgt
Tarkowskis Spuren und lässt die Kamera kreisen. Heraus kommt ein von sich
selbst überzeugter Film, der weder den Willen zur Kunst noch die religiösen
Anwandlungen versteckt
"Im Film", hat Andrej Tarkowski
einmal gesagt, "gibt es zwei Arten von Regisseuren, die zwei verschiedene
Arten von Filmen machen: einmal diejenigen, die die Welt, in der sie leben,
imitieren, und dann die, die ihre eigene Welt erschaffen - die Poeten des Films.
Und ich glaube, dass nur die Poeten in die Filmgeschichte eingehen werden".
Es ist nicht schwer zu erraten, welche Art von Film Tarkowski drehen wollte.
Und auch bei Carlos Reygadas fällt die Zuordnung leicht - allein schon
deswegen, weil der junge Regisseur und Drehbuchautor aus Mexiko bereitwillig
Tarkowskis Namen nennt, sobald man ihn nach Einflüssen fragt.
Reygadas' Debüt "Japón"
("Japan") spielt in einem Canyon im Norden Mexikos. Ein Fremder kommt
hierher, ein Mann aus der Stadt, etwa fünfzig Jahre alt. Eine Waffe trägt
er bei sich, vielleicht weil er sich erschießen will. Die Landschaft hat
etwas Fremdes und Entrücktes, sodass sie sich dazu anbietet, eine eigene,
an der Imitation von Wirklichkeit desinteressierte Welt zu bilden. Von einem
kargen Hochplateau aus führt ein steiniger Pfad in die Schlucht. Auf halbem
Wege liegen ein Haus und eine Scheune, in der der Protagonist unterkommen wird.
Weiter unten, auf dem Grund des Canyons, liegt das Dorf wie ein Ort ohne Wiederkehr.
Dass der Raum dreigeteilt wird, ist kein Zufall, korrespondiert es doch mit
den religiösen Unterströmungen, die sich durch "Japón"
schlängeln.
Als Kind hat Reygadas seine Ferien in
diesem Canyon verbracht. Auch Alejandro Ferretis, der Hauptdarsteller und ein
Freund der Familie Reygadas, ist oft dort
gewesen. Die übrigen Darsteller, ausnahmslos Laien, sind entweder mit dem
Regisseur verwandt beziehungsweise befreundet, oder sie kommen aus der Gegend.
Manchmal tauschen sich die Campesinos vor laufender Kamera darüber aus,
dass die Kamera läuft. Ihre Unbeholfenheit streifen sie in keiner Szene
ab. Wenn der Gemeindevorsteher den Neuankömmling begrüßt, redet
er stockend, als müsste er nach Wörtern suchen. "Sie hatten Angst
vor der Kamera", sagt Ferretis bei einem Gespräch in Cannes, wo "Japón"
im vergangenen Jahr in der Quinzaine des Réalisateurs präsentiert
wurde. Erst am Ende der Dreharbeiten hätten die Laiendarsteller begonnen,
diese Angst zu überwinden. Reygadas sagt: "Es sind sehr nette Menschen,
und der Ort ist wunderbar. Zugleich ist er schrecklich." Und darum gehe
es in "Japón": um "Schönheit, die in Hässlichkeit
umschlägt".
E. T. muss sterben
Wo es gilt, den Film als Kunstform zu
verteidigen, legt Carlos Reygadas große Entschlossenheit an den Tag, und
seine Ausführungen freuen sich an ihrem jugendlichem Übermut: "Ich
hasse E.
T. so sehr, dass ich
ihn am liebsten umbringen würde." Am Illusionskino und an Hollywood
kann er nichts Gutes erkennen, an einer Industrie, die das Warenförmige
von Träumen entdeckt und verwertet, erst recht nicht. "Ich verabscheue
die Vorstellung, das Kino sei ein Ort, wo man für zwei Stunden träumt
und das Leben vergisst, um anschließend in den Alltag zurückzukehren
und sich dabei wie ein Stück Dreck zu fühlen."
Nicht minder entschlossen ist "Japón",
da der Film aus seinem Willen zur Kunst keinen Hehl macht. Das beginnt mit dem
Titel. Wer von Reygadas wissen will, warum seine Wahl auf "Japón"
fiel, erhält als Antwort so etwas wie ein filmpoetisches Credo: "Film
ist ein Geschäft. Die meisten Filmtitel geben eine Zusammenfassung der
Handlung, sodass die Zuschauer wissen, was sie erwartet. In der Fotografie oder
in der Malerei hingegen nennt man das Werk, wie immer man möchte. Selbst ,Ohne Titel' ist möglich. Ich hätte dem
Film am liebsten keinen Titel gegeben. Doch das geht nicht, weil
,Ohne Titel' auch ein Titel ist."
"Japón" zieht alle Register.
Die von Diego Martínez Vignatti geführte Kamera bewegt sich zwar
in der Regel langsam, ist aber zugleich sehr agil, in Schwenks und 360-Grad-Drehungen
verliebt. "Es ist, als benutzte man die Kamera wie einen Pinsel",
sagt Reygadas. Hinzu kommen das Cinemascope-Format und die Musik, die entweder
von Arvo Pärt eigens komponiert wurde oder von Dimitri Schostakowitsch
beziehungsweise von Johann Sebastian Bach stammt.
Die Schlusssequenz, in der die Kamera
zu einer Komposition Pärts über einen Schienenstrang schwebt, sich
wie in einem Möbiusband bewegt und dabei einfängt, was ein schwerer
Unfall von Menschen übrig lässt, sucht ihresgleichen, genauso wie
die, in der der Protagonist auf das Plateau steigt und, an dessen Rand angelangt,
versucht, sich zu töten. Es regnet in Strömen, und nicht weit von
der Stelle liegt ein totes Pferd, im Verwesen begriffen. Der Mann sinkt neben
dem Kadaver des Tieres in sich zusammen. Auch hier löst sich die Kamera
vom Ort des Geschehens, um in weiten Kreisen in den Himmel aufzusteigen. "Japón"
scheut sich nicht, sich mit Bedeutung zu beladen.
Der Mann hat keine Namen und wenige Eigenschaften.
Details und Hintergründe spart sich Reygadas: "Einer der größten
Feinde des Kinos ist das Geschichtenerzählen." So kommt es, dass nichts
in "Japón" über eine Vorgeschichte hergeleitet wird. Die
Figuren und Ereignisse existieren in ihrer Gegenwart, in der Gegenwart des Films.
Wenn etwas motiviert wird, dann nachträglich. Dass die subjektive Kameraführung
der ersten Sequenzen das Gesichtsfeld des Protagonisten wiedergibt, erfährt
man, nachdem man die entsprechenden Einstellungen gesehen hat. Dann erst weiß
man auch, warum diese subjektive Kamera bei ihrem Gang über das Hochplateau
wackelt und stockt: weil der Mann, dessen Perspektive sie einfängt, hinkt.
Im Mittelpunkt von "Japón"
steht die Begegnung zwischen diesem Mann und einer knapp 80 Jahre alten Frau,
die Ascen heißt und von Magdalena Flores gespielt wird, einer Campesina
aus dem Canyon. Ihr gehört die Scheune, in der der Protagonist unterkommt.
Und sie ist es, die dessen Reise ohne Wiederkehr aufhält und umleitet.
Einmal, in einer schönen Szene, erzählt sie von einem Neffen, der
im Gefängnis war. Sie sandte ihm Madonnenbilder. Er benutzte sie, um zu
masturbieren. Sie spricht in ruhigem Tonfall, ohne eine Spur der Empörung,
und ebenso ruhig reagiert sie, als der Protagonist ihr anträgt, dass er
mit ihr schlafen möchte. Sie willigt ein.
"Ja", sagt sie
Die Sexszene, die nun kommt, ist ambivalent.
Zum einen erscheint sie gewagt: Derlei sieht man im Kino selten. Zum anderen
ist sie entstellt, als müsste Reygadas die Schönheit des Wagnisses
in den Verrenkungen der Figuren aufheben. Und sie steht nicht für sich,
sondern dient der Mechanik der Erlösung, mit der der Regisseur seine Hauptfigur
belohnt. Auf wessen Kosten das geschieht, ist leicht zu erraten.
Angedeutet hat sich die sexuelle Begegnung
von Ascen und dem Fremden schon vorher: Eine der subjektiven Kameraeinstellungen
ruhte auf dem Hintern der Frau, in einer anderen, prätentiösen Sequenz
besprang ein Hengst eine Stute, und nach einem Schnitt tauchte der Protagonist
sein Gesicht in eine Bluse Ascens.
"Es ist offensichtlich", sagt
Ferretis, "dass meine Beziehung zu Magdalena mit das Schwierigste des Films
war. Natürlich wegen der erotischen Szene. Carlos legte sie ans Ende der
Dreharbeiten, sodass genug Zeit wäre, damit Magdalena und ich einander
kennen lernten." Reygadas sagt: "Es war gar nicht so schwer. Es fand
an einem der schönsten Tage der Dreharbeiten statt. Die Leute waren still,
niemand redete, niemand witzelte. Für Magdalena war es etwas, das zu tun
sie sich nie in ihrem Leben vorgestellt hätte. Ich glaube, kein Mensch
außer ihrem Ehemann hat sie je nackt gesehen. Aber sie ist eine kluge
Frau. Sie hörte sich an, was ich von ihr wollte, überlegte es sich,
und schließlich sagte sie ,Warum nicht?'."
Einmal, am Anfang des Films, erklärt
Ascen, woher ihr Name kommt: "Von ,Ascención',
wenn Christus zu den Engeln aufsteigt, nicht von ,Asunción', Mariä
Himmelfahrt." So gering die phonetische Differenz zwischen den Frauennamen,
so schmal ist der Grat, auf dem Reygadas wandert. Und so groß wie der
Bedeutungsunterschied der Namen, so tief ist der Abgrund, auf den der Film sich
zubewegt, sobald der Regisseur einen falschen Schritt macht. Oben auf dem Grat
wartet die Kunst, in der Tiefe das Kunstwollen. Reygadas tritt oft daneben.
Dennoch bleibt etwas von "Japón", das sich der kunstreligiösen
Mechanik entzieht.
Cristina
Nord
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz vom 05.06.2003
Japón
Mexiko
/ Spanien 2002 - Regie: Carlos Reygadas - Darsteller: Alejandro Ferretis, Magdalena
Flores, Yolanda Villa, Luis Martín Serrano,
Rolando Hernández, Bernabé Pérez, Carlos Reygadas Barquín,
Fernando Benítez - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 122 min. - Start:
5.6.2003
"Japón".
Regie: Carlos Reygadas. Mit Alejandro Ferretis, Magdalena Flores u. a. Mexiko/Spanien 2002, 122 Min.
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