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Jerichow
Geld oder Liebe? Ist es Zufall, ist es
Schicksal? Drei Menschen treffen im sommerlichen Nordosten der Republik aufeinander,
die einander ein Halt sein könnten, die sich aber verraten. Der Türke
Ali hat sich eine Imbisskette aufgebaut, der Frau Laura gibt er ebenso eine
Chance wie dem Afghanistan-Veteranen Thomas, der ihm einmal aus der Patsche
hilft. Alle drei Figuren sind zutiefst heimatlose Drifter, sozial nicht vernetzt
und verortet – und haben gelernt, ihre Träume und Sehnsüchte pragmatisch
herunter zu dimmen. Den Schlüsselsatz in Christian Petzolds Film sagt Laura:
„Man kann doch nicht lieben, wenn man kein Geld hat!“ Stimmt das? Und wie sieht
das mit der Freundschaft aus? Über der Dreiecksgeschichte nicht vergessen
sollte man die Exposition des Films, die wie der Schluss einer anderen Geschichte
erscheint. Auch diese Geschichte handelt von Illoyalität und Geld. Petzold
und sein ständiger dramaturgischer Berater Harun Farocki zeichnen eine
Landschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, einen Transitraum voller Kreuzungen,
aber ohne Verkehr, eine Infrastruktur ohne Verwendungszweck. In Alis Imbissbuden
sieht man keine Kundschaft, sondern nur die Verrichtungen zur Vorbereitung von
Dienstleistungen. Welche Ökonomie wird sich hier an der Stelle der Lohnarbeit
etablieren? Alle Figuren wirken seltsam flottierend wie Gespenster, die sich
von der Realität abgewendet haben, weil sie in dieser keine Wurzeln ausbilden
konnten. Vor dem Leben kommt das Geschäft, aber kommt nach dem Geschäft
auch das Leben?
Ganz abstrahiert nimmt sich Petzold, der
gerne mit bekannten Vorlagen – Büchern oder Filmen – spielt, diesmal den
Plot von James M. Cains Krimi-Klassiker „The Postman Always Rings Twice“ vor,
um daraus eine subtile, aber soziologisch bestens informierte Geschichte mit
drei glänzend aufgelegten Protagonisten zu machen, die etwas über
die Lebenswirklichkeit in Deutschland oder zumindest über den Nordosten
des Landes zu erzählen hat. Mit bewundernswerter Präzision und Gradlinigkeit
gewährt der Regisseur jeder Figur ihre Geschichte, was „Jerichow“ immer
komplexer werden lässt. Aus dem Buddy Movie wird ein Film noir, wird eine
„Liebesgeschichte“ ohne Zukunft, wird eine Geschichte von zwei Männern
und einer Frau, die sich selbst als Prostituierte begreift, wird schließlich
eine seltsame Tugendprobe, die Ali zeigen soll, ob er es im Leben zu etwas gebracht
hat, auf das man bauen könnte. Eigentlich ein ziemlich absurder Gedanke
in einem Film, der nie ganz klar macht: Wer ist hier Täter, wer Opfer?
Doch bevor das Verbrechen in den Film
kommt, sieht man, wie Ali und Laura ihre Döner-Buden führen, wie Thomas
zum Ernteeinsatz auf dem Gurkenfeld verpflichtet wird, wie ein Provinzpolizist
den sauflustigen Ali drangsaliert, wie Ali Laura drangsaliert, wie Thomas im
Haus seiner verstorbenen Mutter unterkommt, wie Ali seinem neuen Kumpel Thomas
nicht ohne Stolz seine blonde, etwas verhärmte Frau Laura vorstellt – und
dann zusieht, was sich zwischen den beiden entwickelt. Wenn sich ein Motiv wie
ein roter Faden durch den Film zieht, dann ist es das stets auf den eigenen
Vorteil bedachte Handeln. Ali muss ständig aufpassen, dass er von seinen
Angestellten nicht betrogen wird. Aber er kennt auch alle Tricks und ist wachsam.
Früh und wiederholt hat er Thomas klar gemacht, dass ihm sehr daran gelegen
ist, stets die Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Dann nimmt die
Geschichte Fahrt auf, es werden Pläne geschmiedet, Dinge falsch eingeschätzt,
Fehler gemacht; die Spannungen wachsen und auch die Widersprüche. Gerade,
als man denkt, dass hier die Frau zu einem seltsam passiven Tauschobjekt zweier
Buddys wird, erhält Laura ihre Geschichte, die die scheinbare Alternative
von Geld oder Liebe zu Varianten desselben Gefängnisses werden lässt.
Am Schluss dann buchstäblich die Vertreibung aus dem Paradies, wenn Laura
und Thomas alle Chancen auf eine gemeinsame Zukunft besitzen und diese zugleich
doch verspielt haben. Schon 1946 hat Tay Garnett die Geschichte vom zweimal
klingelnden Postmann verfilmt; hierzulande lief der Film unter dem Titel: „Die
Rechnung ohne den Wirt“ (fd 3517).
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Jerichow
Deutschland 2008 - Regie: Christian Petzold - Darsteller: Benno Fürmann, Nina Hoss, Hilmi Sözer, André M. Hennicke, Claudia Geisler, Marie Gruber, Knut Berger - FSK: ab 12 - Länge: 92 min. - Start: 8.1.2009
Zur DVD
Label: Piffl Medien
Genre: Drama
Produktion: Deutschland
DVD ab 25.09.2009 im Handel
technische Angaben
FSK: 12
Laufzeit: 93 min
Tonformat: Dolby 5.1, Dolby 2.0
Bildformat: 16:9
Sprachen: Deutsch
Untertitel: englisch, französisch
Extras: Making Of, Audiokommentar des Regisseurs, Ausführliches Booklet
Ländercode: 0
Vertrieb:
Indigo
EAN 4047179336086
Best.-Nr. DVD 933608
erhältlichbei: goodmovies.
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